Dirigent für eine neue Zeit

Erinnerungen an Claudio Abbado – von Peter Hagmann

Ein Raunen ging durch die Musikwelt, als am 8. Oktober 1989 die Wahl Claudio Abbados zum Nachfolger Herbert von Karajans an der Spitze der Berliner Philharmoniker bekannt wurde. Kaum jemand hatte mit dieser Entscheidung gerechnet. Abbado hatte das Orchester seit 1966 zwar verschiedentlich dirigiert, er war aber eher dem italienisch-österreichischen Kulturbereich zugeordnet.

Seine Karriere begann an der Mailänder Scala, wo Abbado in den Jahren 1966 bis 1986 bis zum Musikdirektor aufstieg. Gleichzeitig gab es jedoch schon früh enge Verbindungen mit Wien, wo Abbado als Schüler des legendären Dirigentenausbilders Hans Swarowsky studiert hatte.

1965 debütierte er bei den Wiener Philharmonikern, mit denen er in der Folge intensiv zusammenarbeitete. So kam es, dass er 1986 an der Seite Claus Helmut Dreses als Musikdirektor an die Wiener Staatsoper berufen wurde. Zusammen mit der neuen Aufgabe in Berlin besaß Abbado um 1990 einen Einflussbereich, der jenem Karajans nur wenig nachstand.

Erfolge und Kritik

Insgesamt waren die zwölf Berliner Jahre für Abbado alles andere als einfach. An Erfolg fehlte es nicht, an Kritik aber ebenso wenig. Vorgehalten wurde dem Dirigenten etwa, dass er mit dem Orchester nicht intensiv genug arbeite, dass er in den Proben keine klaren Vorgaben setze. Der Vorwurf basierte auf einem Missverständnis.

Abbado war von seinem Naturell her weniger auf die Vorbereitung in den Proben ausgerichtet, er war ein Performer, der den Kitzel der Aufführung brauchte, um zu seinem Eigentlichen zu kommen. Wer je Gelegenheit hatte, den Dirigenten im Konzert von vorn zu erleben – in der Berliner Philharmonie war das möglich –, konnte die Wirkung seines Charismas leibhaftig spüren.

Anders als bei Karajan, der die Augen während der Aufführung meist geschlossen hielt, gingen die Blicke Abbados hin und her, als hätte er mit jedem Orchestermitglied persönlichen Kontakt; das Werden der Musik wurde so zu einem Moment intensiv erlebten Miteinanders. Während der Proben vertrat Abbado dagegen die Meinung, Musiker auf Fehler aufmerksam zu machen, sei wenig hilfreich, sie hörten ja selber, was nicht gestimmt habe; darum lasse er eine problematische Stelle einfach kommentarlos wiederholen.

Indes, so schwierig das gute Jahrzehnt Abbados am Pult der Berliner Philharmoniker gewesen sein mag, so grandiose Momente hat es hervorgebracht. Spielzeit für Spielzeit habe ich das Orchester gehört, sommers jeweils bei den Internationalen Musikfestwochen Luzern, dem heutigen Lucerne Festival, winters in der Philharmonie. Orchesterkultur der feinsten Art war da zu erleben. Unvergesslich etwa die Symphonien von Johannes Brahms in den neunziger Jahren.

Sein erstes Luzerner Konzert mit den Berlinern im Sommer 1990 beschloss Abbado mit Brahmsʼ Erster Symphonie in c-Moll – genau so, wie es Karajan 1988 beim letzten Luzerner Auftritt vor seinem Tod getan hatte. Die Vermutung, er habe mit der Wahl gerade dieses Stücks den Aspekt der Kontinuität in den Vordergrund stellen wollen, wies Abbado zurück; die Symphonie sei allein deshalb aufs Programm gekommen, weil sie für ein Aufnahmeprojekt der Berliner bei der Deutschen Grammophon ohnehin in Arbeit gewesen sei.

Auf den Spuren Karajans

Dennoch entging aufmerksamen Zuhörern die Nähe zwischen den Interpretationsansätzen Abbados und Karajans keineswegs. Der Jüngere schien vom Älteren geradezu auszugehen. Wie Karajan setzte Abbado auf den homogenen philharmonischen Klang. Er stattete ihn jedoch mit einer gesteigerten klanglichen Strahlkraft aus – und das im Dienst einer emotionalen Dringlichkeit, die ein Klima packender Unmittelbarkeit erzeugte.

In der Folge nahm Abbados Brahms-Bild derart zwingende persönliche Kontur an, dass Nikolaus Harnoncourt, als er 1996/1997 für eine Gesamtaufnahme der Symphonien von Brahms zu den Berliner Philharmonikern kam, mit, wie er selber berichtete, bangen Gefühlen vor das Orchester trat.

In ein gleichermaßen prägnantes Licht gerieten die Symphonien Gustav Mahlers, die gerade bei den jährlichen Luzerner Auftritten der Berliner einen wirkmächtigen Schwerpunkt bildeten.

Gegen Ende seiner Berliner Amtszeit im Jahre 2002 begann sich bei Abbado das Klangbild freilich zu lichten. Dies nicht zuletzt unter dem Einfluss der historisch informierten Aufführungspraxis, in der sich Abbado sehr wohl auskannte, wie 1999 eine Aufführung von Johann Sebastian Bachs »Hoher Messe« in h-Moll bei den Osterfestspielen Salzburg zu erkennen gab.

Auch im Umgang Abbados mit den Symphonien Ludwig van Beethovens waren Zeichen solcher Veränderungen zu erkennen – zumal in den auf Video dokumentierten Konzertwiedergaben, die er unmittelbar nach der Genesung von seiner schweren Erkrankung 2001 geleitet hat.

Dramaturgische Programmgestaltung

Zur Intensität der interpretatorischen Aussage trat in Abbados Berliner Wirken die konsequente, dramaturgisch gedachte Arbeit an der Programmgestaltung. Von Bedeutung waren da insbesondere die thematisch ausgerichteten Konzertzyklen, die Abbado zwischen 1992/93 und 2000/01 entwickelte. Im Zentrum stand meist jene Oper, die Abbado in Berlin halbszenisch aufführte, bevor er sie zu den von ihm geleiteten Osterfestspielen nach Salzburg mitnahm.

Hinzu kamen, verteilt über die Saison, nicht nur Konzerte, sondern auch Lesungen, Theateraufführungen, Ausstellungen und Filmvorführungen. So näherte er sich einem Thema auf ganz verschiedenen Ebenen. Abbado war nicht nur ein akribischer Erforscher der von ihm dirigierten Partituren, sondern auch ein vitaler Intellektueller, dessen Interessen außerordentlich weit gespannt waren – die Herkunft aus dem Bildungsbürgertum sizilianisch-lombardischer Prägung mochte das befördert haben.

Als er 1989 nach Berlin kam, die Mauer war eben erst gefallen, stürzte er sich in das bewegte kulturelle Leben der Stadt; wenig später erzählte er äußerst animiert von den Begegnungen mit Literaten, Schauspielern und Filmregisseuren. So erhielt die Reihe der thematischen Zyklen ausgesprochen urbanes Flair.

Aufbruch zu neuen Zielen

Dann, im Jahr 2000, der Ausbruch der fatalen Krankheit, unter deren Einfluss Claudio Abbado ein anderer wurde. Ein stummer Aufschrei schien durch das Publikum zu gehen, als er Mitte Februar 2001 zum ersten Mal nach der Genesung mit den Berliner Philharmonikern in den Wiener Musikverein kam – als ein Schatten seiner selbst. Die Symphonien Beethovens ließen allerdings hören, dass Abbado noch einmal zu neuen Zielen aufgebrochen war.

Vier Wochen nach den Wiener Konzerten gaben Claudio Abbado und Michael Haefliger, der Intendant des Lucerne Festival, die Gründung des Lucerne Festival Orchestra bekannt. Das Projekt beflügelte den Dirigenten ungemein; zwei Jahre später, bei einem langen Gespräch vor seinem siebzigsten Geburtstag, wirkte Abbado jedenfalls wie neugeboren.

Mit dem Luzerner Orchester aus lauter Freunden hat Abbado ein Umfeld geschaffen, in dem er sich als Musiker und als Mensch aufgehoben, akzeptiert und geschätzt, ja geliebt fühlen konnte. So kam er näher an die von jedem Künstler verfolgten Idealvorstellungen heran als unter den traditionellen Voraussetzungen in Mailand, Wien und Berlin.

Mit dem Aspekt der Freundschaft verbunden war jener der Kammermusik. »Kammermusik spielen ist nichts anderes als Freundschaft pflegen«, rief Abbado damals aus. Dass das Musizieren im Orchester als vergrößerte Kammermusik zu sehen sei, das sagt sich rasch und versteht sich leicht. Für die Wirklichkeit der Aufführung und der musikalischen Interpretation ist es allerdings von kapitaler Bedeutung – das haben die Konzerte des Lucerne Festival Orchestra mit Abbado nachhaltig bewiesen.

So kraftvoll Claudio Abbados Idee des Lucerne Festival Orchestra ausgestrahlt hat, so sehr stand das Unternehmen im Zeichen der Fragilität. Hatte der Dirigent durch die Arbeit mit dem Orchester zunächst neue Vitalität gewonnen, machte ihm die labile Gesundheit immer wieder einen Strich durch die Rechnung.

»Primus inter pares«

Die Auffassung von Orchestermusik als einer Art »Kammermusik im Großen« stellte auch das Herzstück im Selbstverständnis des Dirigenten Claudio Abbado dar. Gerne sähe er sich, so wurde berichtet, als einen »Primus inter pares«, der den Einsatz gebe und dann abtrete – will sagen: der das Feld ganz und gar den Musikern überlasse. Abbado, so unnachgiebig er in der Verfechtung seiner Ideen und Wünsche sein konnte, war das Gegenteil eines »Pult-Despoten«.

Selbst in Fragen der Interpretation gab es für ihn, wie ein Mitglied der Berliner Philharmoniker anschaulich zu schildern wusste, keine einzigen, endgültigen Lösungen. Mag sein, dass er mit derartigen Vorstellungen bei Orchestermitgliedern, auch bei Kritikern, Widerstände und Spannungen ausgelöst hat. Tatsache ist aber, dass Abbados Modell im Umgang mit einem Kollektiv, zumal einem so hochkomplexen wie einem aus lauter Spezialisten zusammengesetzten Orchester, inzwischen Allgemeingültigkeit erlangt hat.

Bei Claudio Abbado hatte das alles biographische Wurzeln. Die wichtigste bildet gewiss die Sozialisation im Kreis einer Familie, in der Kammermusik ganz selbstverständlich zum Alltag gehörte. Ins Gewicht fallen aber auch frühe Erfahrungen aus der Tätigkeit am Konservatorium von Parma, wo Abbado drei Jahre lang Kammermusik unterrichtete und dabei Erkenntnisse über die Interaktion von Musikern im Kollektiv gewinnen konnte.

Immer wieder hat der Dirigent von jener Zeit gesprochen; sie bedeutete ihm besonders viel. Prägend war aber auch der antiautoritäre Geist von 1968, der in Italien seine besonderen Ausformungen erfuhr. Führen – und das Kollektiv eines Orchesters kann ohne Führung nicht funktionieren – hieß für ihn stets agieren aus dem Reagieren heraus, hieß Impulse setzen und aufnehmen, Freiraum schaffen und Vertrauen walten lassen.

Der Respekt vor dem Einzelnen als Teil des Ganzen verband sich mit einem äußerst kraftvollen Geist der Gemeinsamkeit – und dazu kam die außerordentliche Begeisterungsfähigkeit Abbados. Im Sommer 2013 schilderte der Dirigent explizit, wie er sich, wenn er an einer Partitur arbeite, bedingungslos in die Musik verliebe und wie sich dieser Zustand der Verliebtheit in der Probenarbeit nach und nach auf das Orchester übertrage.

Romantiker mit Nähe zur zeitgenössischen Musik

Noch in einer anderen Hinsicht ist Claudio Abbado durch die späten sechziger und frühen siebziger Jahre geprägt worden. Die Rede ist von seiner ganz selbstverständlichen Nähe zur zeitgenössischen Musik. Auch dieser Aspekt im Wirken Abbados hat seine Kreise gezogen. Für viele zumal jüngere Dirigenten unserer Tage bildet die Beschäftigung mit der neuen Musik einen unverzichtbaren Bestandteil ihres Tuns.

Zu den bedeutendsten Taten in diesem Bereich zählt jedoch zweifellos die Gründung des Festivals »Wien modern«, das 1988 zum ersten Mal durchgeführt wurde. Hellsichtig hatte Abbado erkannt, dass es in der damals noch durch und durch rückwärtsgewandten »Welthauptstadt der Musik« ein beträchtliches Defizit im Bereich der neuen Musik gab. Mit monografischen Konzerten wurden fortan Komponisten vorgestellt, die es in Wien noch zu entdecken galt. Und schon damals gab es Querverbindungen über die Tonkunst hinaus.

Ohne Zweifel dominiert im Wirken Claudio Abbados insgesamt die Musik der klassisch-romantischen Epoche. Gleichwohl steht fest, dass Abbado mit seinem außergewöhnlichen künstlerischen Profil der Neuen Musik, auch ihrer Stellung im Musikleben überhaupt, bedeutende Dienste geleistet hat. Fast noch gewichtiger erscheint jedoch Abbados Einfluss auf das Berufsbild des Dirigenten.

Die von ihm vertretenen Prinzipien des Musizierens im Orchester und der Führung im musikalischen Kollektiv haben für unsere Gegenwart eine Bedeutung erlangt, die nicht unterschätzt werden sollte. Mit diesen beiden Aspekten seiner künstlerischen Biografie ist Claudio Abbado tatsächlich zum Dirigenten für eine neue Zeit geworden.


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