Mit hell klingenden Glocken, sogenannten Crotales, begann das WDR Sinfonieorchesters ein zukunftsweisendes Programm, das das Wechselspiel zwischen Individuum und Masse, dem Solisten und dem Orchester, beleuchtete. Zusammen mit lauten, hohen Piccolotönen bestimmen diese Glocken den Klang in Beat Furrers Phaos (Licht). Die schmerzhaft eindringlichen Töne machten das Zuhören bei diesem groß besetzten Orchesterstück ähnlich schwierig wie das mühevolle In-die-Sonne-Schauen ohne Sonnenbrille. Denn Furrers Klangmassen erkunden akustische Grenzerfahrungen. Sein musikalisches Material ist von anorganischer Qualität und weitestgehend fragmentarisch, wobei einige rhythmische Strukturen dem Jazz entnommen zu sein scheinen. Es ging Furrer und dem Dirigenten Michael Wendeberg offensichtlich nicht um etwas sinnlich Swingendes, sondern um experimentelles Ausloten. Demzufolge ist auch das Ende dieser Komposition vorhersagbar konstruiert: ein großes Tuttiglissando nach unten, welches – immer lauter und langsamer werdend – in schier unerträglichem Schreien abbricht.

Der in Budapest geborene Pianist und Komponist Máton Illés hat sich zur Vorbereitung auf die Komposition seines neuen Violinkonzerts mit dem Titel Vont-tér (Gestrichener, gezogener Raum) mehrere Streichinstrumente angeschafft, um darauf eigenhändig mit neuen Spieltechniken zu experimentieren. Es versucht damit neue Wege zu finden, da ihm die herkömmlichen Spielweisen nicht ausreichen, um den uns im Alltag umgebenden natürlich-organischen Bewegungsfluss musikalisch darzustellen. Illés strebt nach einer räumlichen Darstellung von Musik, mit der er sich von der seiner Meinung nach vorherrschenden „verpixelten“ Musik absetzen will. Ihm geht es um ein Komponieren von Wahrheit weg von gekünstelter Esoterik, in der eben auch Platz ist für die Hektik, die uns umgibt. In der Tat stellt sich das Konzert schließlich als ein spannendes, abwechslungsreiches Stück mit geklopften Rhythmen und orchestral tieftönenden Bassklarinettennoten dar.

Mit der moldawischen Violinistin Patricia Kopatschinskaja hatte er nicht allein eine liebevoll geniale Interpretin und Mitstreiterin, sondern zugleich in ausführlichen Gesprächen mit ihr eine weitestgehend präzise Notationsform für seine Musik gefunden, in der sich Solistin und Orchester komplett frei bewegen können. Kopatschinskaja trat für die Uraufführung im clownesk zerrissenen Frack auf, das traditionell dazu getragene weiße Hemd hing ihr nonchalant aus der Hose. Dirigent Michael Wendeberg hatte anfänglich Mühe, ihren ersten überfallartigen Einsätzen zu folgen, nachdem sie sich zuvor ihrer glitzernden Pantoffeln entledigt hatte, um gewohnt barfuß loszulegen. Schnell aber kam er seiner Aufgabe gewissenhaft nach, das auf Kammerorchesterstärke reduzierte, sehr präsente WDR Sinfonieorchester mit dem grilligen Solopart zu vereinen. Die Solistin zeigte in der Kadenz was sie zur Ausnahmegeigerin macht: das schwierige Notenmaterial wurde unter ihren Fingern zu flüssigem Gold, mit dem sie gönnerhaft das gänzlich verzauberte Publikum beschenkte.

Mit Stele per Diotima von Bruno Maderna ging es zurück in die 60er-Jahre. Für das Hörerleben formt diese Komposition eine Synthese aus Furrers konstruierter und Illés erlebnisorientierter Musik. Stele ist ein Teil von Maderna offenem Opernprojekt Hyperion, welches er mehrere Jahre hindurch stetig erweitert. Textvorlage bildet der gleichnamige Briefroman von Friedrich Hölderlin, der wie Beethoven 1770 geboren wurde. Maderna sieht in Hyperion den einsamen Rufer, der „versucht, die anderen von seiner Idee und seinen Idealen zu überzeugen.“ Dementsprechend standen dem Kammerorchester mehrere Solisten gegenüber. Konzertmeister Slava Chestiglazov war mit seinem vollen warmen Geigenklang der ideale Interpret für diese Anbetung einer fernen Geliebten. Auch die intensiven Bassklarinetten- und Hornsoli erzählen packend von Liebe und Leid des Protagonisten, während die Tutti-Klangblöcke des Orchesters die gesellschaftliche Masse symbolisieren. Aus diesen Blöcken kommen immer wieder äußerst interessante Impulse: So begannen die Schlagzeuger nach Egon Hellrungs Hornsolo ein prickelnd tickendes Rhythmikspiel. Auch der Blechbläserchor mit zwei Tuben machte kurz vor Schluss heldenhafte Musik bevor ein letzter Schlagzeugtumult dieses wunderbar programmierte Konzerterlebnis glorreich beendete.

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