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"Ich mag die Musik, die hell ist" - Interview mit Ingo Metzmacher

„ICH MAG MUSIK, DIE HELL IST“

Zwischen neuer Ordnung und alten Mächten: Ingo Metzmacher dirigiert Walter Braunfels’ Oper Die Vögel. Ein Gespräch über musikalische Grenzgänge – im 20. Jahrhundert und im umgebauten Orchestergraben.

Interview Max Nyffeler

Fotos Sigrid Reinichs

Premiere Die Vögel

MAX JOSEPH Wolle die Wandlung heißt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, aus dem auch das Spielzeitthema der Bayerischen Staatsoper, Der wendende Punkt, abgeleitet wurde. Passt ein weltanschaulich eher konservativer Walter Braunfels mit seiner Oper Die Vögel da überhaupt hinein?

INGO METZMACHER Naja, die beiden Figuren Ratefreund und Hoffegut wollen ja die Wandlung. Zumindest der eine, Ratefreund, der die Vögel überredet, etwas Neues zu machen.

MJ Was dann schiefläuft.

IM Braunfels hat wohl auf die damalige politische Situation angespielt und im zweiten Akt Aristophanes verändert. Wenn diese „Himmelsburg“, was man sich auch immer darunter vorzustellen hat …

MJ … das Wolkenkuckucksheim des Aristophanes …

IM … wenn die zerstört wird, ist das musikalisch schon sehr eindrucksvoll. Man ahnt natürlich, dass die Utopie, die da im ersten Akt aufgebaut wird, nicht lange halten wird. Aber die Gewalt der Zerstörung, die wie ein Gewitter hereinbricht, schockiert dann doch. Die gesamte Ordnung bricht in sich zusammen, die Stadt wird zerstört. Und die Protagonisten tun so, als wäre nichts passiert. Alle fliegen weg. Das ist bemerkenswert.

MJ Die Oper entsteht in einer chaotischen Zeit. Braunfels beginnt mit der Arbeit 1913, im Jahr des Wiener „Watschenkonzerts“ und des Skandals von Igor Strawinskys Sacre du printemps in Paris. Dann kommt die Kata - st rophe des Ersten Weltkriegs, er steht an der Front und wird verwundet. 1919 beendet er das Werk.

IM Und im April 1919 gibt es die Münchner Räterepublik, die nach vier Wochen brutal niedergeschlagen wird. Die Parallele zur Vogelrepublik ist erstaunlich. Braunfels rekurriert meiner Ansicht nach zwar nicht direkt auf München, aber ganz sicher auf die allgemeine politische Instabilität, auf das, was um ihn herum passiert: Man erhofft sich eine neue Gesellschaft, eine neue Ordnung, und dann kommen die alten Kräfte, in unserem Fall die Götter, die einfach alles brutal zerstören.

MJ Seine revolutionäre Begeisterung hielt sich aber wohl in engen Grenzen. 1917 konvertierte er zum Katholizismus, nach der Uraufführung der Vögel 1920 komponierte er ein Te Deum und später ausnehmend viel geistliche Musik. Vor diesem Hintergrund könnte man das Stück auch als Konflikt zwischen religiösem und säkularem Denken und den Triumph der Götterwelt als Restaurierung einer religiös fundierten Ordnung in einer gottlos gewordenen Welt deuten. Der zeitgeschichtliche Hintergrund ist dennoch nicht wegzudenken.

IM Auch nicht in musikalischer Hinsicht. Braunfels gehört zu den Komponisten, die bis an die Grenze gegangen sind, aber nie darüber hinaus. Der einzige, der dann auch die Tonalität endgültig verlassen hat, war Arnold Schönberg.

MJ So weit wie Richard Strauss in der Elektra ist Braunfels aber nicht gegangen.

IM Das stimmt. Ähnlich wie Franz Schreker. Strauss, Braunfels und Schreker waren die drei, die damals am meisten gespielt wurden. Sie haben sich der roten Linie genähert, ohne sie zu überschreiten. Für mich ist das immer noch der spannendste Moment in der Musik des frühen 20. Jahrhunderts: Die völlige Offenheit der Entwicklung, verbunden mit dem Bewusstsein, dass der Grund, auf dem man steht, nicht mehr sicher ist.

MJ Was war Ihr erster Eindruck von der Partitur?

IM Ich hatte das Stück vor 16 Jahren in Genf schon einmal gehört und fühlte mich davon sehr angesprochen. Deshalb war ich innerlich auf die neue Aufgabe vorbereitet. Besonders interessant finde ich den Anfang des zweiten Aktes mit der Nachtigall. Die langsame Entwicklung, der üppige, weiche Klang der geteilten Streicher, der zauberhafte Gesang und cis-Moll, eine tolle Tonart. Das hat mich als Bild am meisten angesprochen. Faszinierend finde ich auch den Beginn mit den Geigen und ihrem eröffnenden Oktavsprung. Es ist ungewöhnlich, dass ein Stück so anfängt. Wegen der Corona-Pandemie werden wir leider nur eine kleine Streicherbesetzung haben.

MJ Vom Vogelgesang fühlte sich Braunfels offenbar inspiriert.

IM Olivier Messiaen, der Ornithologe unter den Komponisten im 20. Jahrhundert, sagte einmal sinngemäß: Den Gesang, auf den sich die Menschen so viel einbilden, haben die Vögel schon vor Millionen Jahren erfunden. Vögel sind ein dankbares Thema für einen Komponisten, sie singen ja den ganzen Tag. Ich denke, das hat Braunfels herausgefordert, auch wenn er ganz anders als Messiaen mit den Vogelstimmen umgeht. Und Braunfels machte den Vogel, der am allerschönsten singt, die Nachtigall, gleich zu einer Hauptrolle. Vor ein paar Jahren habe ich in Berlin, mitten in der Stadt nachts um zwei Uhr, eine Nachtigall gehört. Das ist eines der größten Erlebnisse, das man als Musiker haben kann: dieser unglaublich schöne Gesang in der Stille der Nacht. Man kann ihn gar nicht beschreiben, so sehnsuchtsvoll ist er. Mit der Nachtigall kommt eine ganz andere Ebene in das Stück hinein.

MJ Die romantische Ferne. Und die Nachtigall singt ja auch explizit von der Sehnsucht.

IM Aber nicht von der irdischen Liebe. Sie singt von etwas anderem, und das versteht der Träumer Hoffegut nicht.

IM Sie verkörpert eine poetische Gegenwelt zum Denken der beiden Menschen.

MJ Das ist der Unterschied zu Aristophanes. Dieser schuf ein satirisches Theaterstück mit realistischen Bezügen zum politischen Geschehen in Athen. Braunfels hebt die Geschichte in eine idealistische Sphäre. Da öffnet sich der musikalische Raum. Das geschieht an ganz entscheidenden Stellen mit der Figur der Nachtigall. Die Oper beginnt mit ihrem Auftritt im Vorspiel, der zweite Akt beginnt ebenfalls mit ihr, und am Schluss hat sie das letzte Wort. Das hat sich Braunfels sehr gut überlegt.

MJ Die Tessitura der Nachtigall ist ungewöhnlich.

IM Die Partie hat einen gewaltigen Umfang, über zwei Oktaven, und bewegt sich in zwei Ausdrucksbereichen. Einerseits gibt es das Lyrische, sehnsuchtsvoll Romantische, andererseits die Koloraturen. Eine schwere Partie.

MJ Die zweite wichtige Rolle ist die des Prometheus.

IM Das ist eine herausragende Figur. Ich habe Herrn Bachler gleich gefragt: Wer singt den Prometheus? Der war mir fast wichtiger als die Nachtigall. Für mich ist es ein Lieblingsmoment, wenn er auftritt. Er wird durch übermäßige Akkorde charakterisiert, die das Dur-Moll- System sprengen. Und er sprengt bei seinem Erscheinen ja auch die feiernde Gesellschaft. Zuerst soll er nur ganz leise singen, aber die Stimme muss von Anfang etwas Geheimnisvolles ausdrücken. Auch etwas Ungemütliches. Man merkt sofort: Da stimmt etwas nicht.

„Vor ein paar Jahren habe ich in Berlin eine Nachtigall gehört. Das ist eines der größten Erlebnisse, das man als Musiker haben kann.“

MJ Eine numinose Erscheinung. Ich habe eine hartnäckige Assoziation mit dem Auftritt des Komturs am Schluss des Don Giovanni. Beide kommen von außen und stören das sinnenfrohe Vergnügen der anderen, die sich zuerst gar nicht mit ihnen befassen wollen. Auch das Anfangsmotiv mit dem Quart-Oktavsprung ist dasselbe.

IM Sein Auftritt ist zweifellos der große Einschnitt im Stück. Das Übernatürliche bricht in die Wirklichkeit ein. Braunfels hat das dramaturgisch genau geplant: Wann kommt er? Wie gestalte ich die Szene davor, um eine möglichst starke Wirkung zu erzielen? Es braucht ein Vakuum davor, wie in einer Bach-Fuge, wo dem Einsatz des Basses ein lockeres Zwischenspiel vorangeht. Hier gibt es davor diese witzige Taubenhochzeit.

MJ Die Taubenhochzeit, im Grunde eine traditionelle Balletteinlage samt Polonaise, ist der Höhepunkt der Festfreude im zweiten Akt. Wie geht Braunfels hier und im ersten Akt mit dieser ganzen Vogelschar um?

IM Die Vögel sind zu großen Chorszenen zusammengefasst, und einige treten solistisch hervor. Neben der Nachtigall sind das in kleineren Rollen vor allem der Wiedhopf als ihr Anführer, der Zaunschlüpfer als Türsteher und der Adler.

MJ Der Wiedhopf ist eine merkwürdig ambivalente Figur. Er war einmal ein Mensch und steht jetzt zwischen Vogel- und Menschenwelt. Er ist ein kleiner Opportunist. Das zeigt sich auch musikalisch: Während die Vögel als Naturwesen häufig in klaren Durtonarten singen, wird sein Auftritt im ersten Akt mit einer diffusen, mehrdeutigen Harmonik versehen. Später, wenn er singt, fällt diese musikalische Ambivalenz dann weniger auf.

MJ Unter den Vögeln ist er der erste, der sich auf die Seite der menschlichen Eindringlinge schlägt.

IM Der einzige Unerschütterliche ist der Adler. Er gilt als König der Vögel, und man wundert sich, dass nicht er der Chef ist. Er warnt die Vögel vor den Menschen und macht das mit majestätischen breiten Notenwerten und einem weit gespannten Melodiebogen. Diese aufwärtsstrebende Linie ist beeindruckend in ihrer Gestalt. Ein Aufstieg zum Licht, der durch die immer hellere Instrumentierung verdeutlicht wird.

MJ In der Mythologie wird der Adler Zeus zugeordnet. Im zweiten Akt erscheint er wieder im Zusammenhang mit dem Sturm, in dem die Stimme des Zeus ertönt.

IM Das ist aufführungspraktisch eine problematische Stelle. Laut Partitur soll hier ein Teil des Chors im Orchestergraben und mit dem Rücken zum Publikum singen; das geht bei uns schon deswegen nicht, weil der Orchestergraben coronabedingt hochgefahren wird. Hier muss man sich überlegen, was mit der heutigen Technik machbar ist, damit ein veritabler Sturm entsteht. Die Gewalt, mit der Zeus dazwischenfährt, muss akustisch erfahrbar sein. Mit einer Windmaschine kommt man da nicht weit.

MJ Da wird dann wohl die Soundanlage der Staatsoper mit ihren immersiven Möglichkeiten in Gang gesetzt. Und die Chöre, wie sind sie gestaltet?

IM Sie sind schnell, laut, dramatisch und sehr wirkungsvoll komponiert. Der vielstimmige Chorsatz ist nicht polyphon, sondern mehr blockhaft angelegt. Mit den ineinandergreifenden Achtelketten der Vogellaute ist er rhythmisch etwas heikel.

MJ Braunfels stellt den Vögeln kein gutes Zeugnis aus. In den zwei großen Chorszenen der beiden Akten erscheinen sie als schwankende, leicht beeinflussbare Masse. Im ersten Akt, wenn Ratefreund den Vögeln einredet, sie würden von den Menschen unterdrückt, versinken sie in Selbstmitleid und singen „O wie trifft mich dein Wort so schwer“. Dazu erklingen chromatisch absteigende Bässe, eine rhetorische Figur des Barock. Die Art des Zitierens erinnert an die Praxis des damals aufkommenden Neoklassizismus.

IM Er scheint sich über die kleinmütigen Vögel lustig zu machen.

MJ Wenn er das kleinmütige Gejammere der Vögel mit einer barocken Schmerzensfigur kommentiert, wirkt das ironisch.

IM Ob das Ironie ist, weiß ich nicht. Aber vielleicht merkt hier Braunfels, dass er nicht mehr so ungebrochen weiterkomponieren kann.

MJ Das unvermittelte Zitieren eines barocken Versatzstücks verweist wohl auch auf die damals herrschende Unsicherheit: Man weiß noch nicht, wohin die Reise geht, alles ist möglich und wird ausprobiert. Braunfels scheint hier einen Moment lang selbst an seinem spätromantischen Ton zu zweifeln.

IM Obwohl er ihn auch bedient und die Nachtigall mit ihren Auftritten das ganze Stück einrahmt. Und was man nicht übersehen sollte: Die Vögel stehen auch für eine Natursphäre, die über der Sphäre der Menschen schwebt. Der Weg, den Ratefreund und Hoffegut zu ihnen zurücklegen, geht nach oben. Sie müssen die Erdenschwere überwinden und zu ihnen hinaufsteigen. Die große alte Sehnsucht der Menschen zu fliegen, die sich vor hundert Jahren erfüllt hat, ist die Sehnsucht nach einer Leichtigkeit. Auch das gehört zur Vogelwelt. Der Einbruch der Götter am Schluss holt das alles wieder herunter. So entsteht ein Hell-Dunkel. In der Musik gibt es sowohl das Katastrophische als auch die lichte Helligkeit. Ich persönlich mag Musik, die hell ist.

MJ Die Vögel werden oft in reiner, nur wenig eingetrübter Tonalität dargestellt, in D-Dur, F-Dur, H-Dur. Die Menschenwelt ist dagegen harmonisch komplizierter.

IM Vielleicht drückt sich in diesen tonalen Passagen auch die Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit aus.

MJ Klarheit scheint mir ein wichtiges Stichwort zu sein für dieses Stück. Das gilt sowohl für die Detailstruktur, wo harmonisch deutlich voneinander unterschiedene Abschnitte aufeinander folgen, als auch für die Großform.

IM Für die formale Gliederung spielt die Harmonik zweifellos eine zentrale Rolle. Dass der 2. Akt in cis-Moll beginnt, ist kein Zufall, wo das ganze Stück in D anfängt und aufhört. Wenn er in diesem Kernstück der Oper eine so ungewöhnliche Tonart benutzt, entsteht sofort ein ganz anderer Ton, eine spezifische Atmosphäre.

MJ Ein Naturton, von dem sich Hoffegut angezogen fühlt.

IM Als lyrischer Tenor hat er im Duett mit der Nachtigall sehr schöne Sachen zu singen.

MJ Ratefreund ist dagegen ein ziemlich fieser Kerl. Ein Demagoge, der die Vögel zu ihrem größenwahnsinnigen Projekt anstiftet.

IM Er ist aber nur der Berater und nicht verantwortlich.

MJ Genau. Wie es bei revolutionären Schwätzern eben so üblich ist.

IM Als Berater ist er fein raus. Er wirkt aber nicht wie ein Revolutionär, er sagt bloß: Warum macht ihr eure Position nicht zu Geld? Wenn ihr hier eine Grenze einzieht, kann der Opferrauch nicht mehr nach oben ziehen, und die Götter müssen zahlen. Sozusagen eine Zollstation.

MJ Das ist die neue Sachlichkeit: Die Romantik ist passé, jetzt wird Neues gebaut und sogar das Jenseits profitabel verwertet.

IM Aber die Rechnung wird ohne die Götter gemacht.

Max Nyffeler war Musikredakteur beim Bayerischen Rundfunk und beim Schweizer Radio DRS, Leiter der Informationsabteilung der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und Künstlerischer Leiter des Musikverlags Ricordi. Heute publiziert er als freier Journalist für Rundfunk und Presse.

INGO METZMACHER – Ingo Metzmacher begann seine Karriere in Frankfurt beim Ensemble Modern und an der dortigen Oper sowie am Théâtre Royal de La Monnaie in Brüssel mit einer Neuproduktion von Franz Schrekers Der ferne Klang. Von 1997 bis 2005 war er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, danach Chefdirigent an De Nederlandse Opera in Amsterdam und beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, wo er auch als künstlerischer Leiter fungierte; seit 2016 ist er Intendant der KunstFestSpiele Herrenhausen. In den vergangenen Jahren dirigierte er bei den Salzburger Festspielen sowie u. a. am Royal Opera House in Covent Garden, London, am Teatro alla Scala in Mailand und an der Wiener sowie der Berliner Staatsoper. Den Ring des Nibelungen brachte er am Grand Théâtre in Genf zur Aufführung.

DIE VÖGEL Ein lyrisch-phantastisches Spiel in zwei Aufzügen (1920) Premiere am Samstag, 31. Oktober 2020, Nationaltheater

Live-Stream der Vorstellung am Sonntag, 8. November 2020 1 www.staatsoper.tv