Bitte kein Vertun: Die aktuellen Corona-Infektionszahlen sind dramatisch. Sie erzwingen weitere Einschnitte ins gesellschaftliche Leben. Sie machen bittere Entscheidungen notwendig. Deswegen ist in der Sache nichts gegen die Stoßrichtung der Beschlüsse zu deutlich verschärften Kontaktbeschränkungen einzuwenden. Aber die Form der Begründung und die Einbettung der erforderlichen Maßnahmen richten schweren Schaden an. Sie drohen, dringend notwendiges Vertrauen zu zerstören.

Der bezeichnendste Moment der Pressekonferenz, in der Angela Merkel, Michael Müller und Markus Söder die Beschlüsse von Bund und Ländern zur Eindämmung der Corona-Pandemie in der vergangenen Woche vorgestellt haben, kam direkt nach den einführenden Statements. Die erste Frage richtete sich auf Gottesdienste und warum sie weiter erlaubt seien. Gute Frage! Die Kanzlerin suchte nach einer Antwort und fand diese: "So wie wir versucht haben, zum Beispiel alle Geschäfte offen zu lassen, erschien es uns nicht angemessen und vergleichbar, Gottesdienste zu verbieten." Und Markus Söder sekundierte, dass man angesichts des Schutzes der Versammlungs- und der Religionsfreiheit hier besonders zurückhaltend sein müsse.

Das ist nur ein Beispiel für Entscheidungen, die im Kleinen nachvollziehbar sind und doch im größeren Rahmen drängende Fragen aufwerfen. Schließlich wird im gleichen Beschluss die Freiheit von Kunst und Kultur recht umstandslos de facto ausgesetzt – wenn auch zunächst nur zeitweilig für die kommenden vier Wochen. Zwischen Kunst und Kirche wird diese politische Differenzierung mittlerweile intensiv reflektiert, wie sich am Sonntag in einem spontanen "Gottesdienst der Künste" im Hamburger Thalia Theater erleben ließ, bei dem der Pastor der St.-Pauli-Kirche die Predigt hielt und die Landesbischöfin den Segen sprach.

Dieses Signal der Gemeinsamkeit zwischen Kultus und Kultur ist wichtig: In säkularen Gesellschaften suchen Bürgerinnen und Bürger schließlich längst nicht mehr nur in Kirchen, Moscheen oder Synagogen nach Sinn und Trost, sondern vielfach auch in jenen Kulturorten, die jetzt im November wieder geschlossen sind. Nicht wenige finden Sinn am Samstagabend in der Theaterpremiere oder am Donnerstagabend in einem neuen Kinofilm – und sie schaffen hier ebenso viele Anlässe, über Wohl und Wehe unserer Gesellschaft nachzudenken und zu diskutieren, wie diejenigen, die dies am Sonntagvormittag in einem Gotteshaus tun.

Es wirft einen Schlagschatten auf die Corona-Beschlüsse und ihre Akzeptanz, dass diese Differenzierung nicht einmal thematisiert wird. Ihnen fehlt leider jede Mühe, zu begründen, warum Vergleichbares nicht vergleichbar behandelt wird. Der Maßstab für den Gottesdienst wäre dann nämlich das Theater. Und die Öffnung der Geschäfte müsste Konsequenzen für die Betrachtung der Museen haben, in denen ja ebenfalls keine Veranstaltungen stattfinden, sondern ein Laufpublikum mit klugen Hygienekonzepten auf Abstand gehalten werden kann.

Diese Unwuchten müssen alle in Sorge versetzen, die das Virus effektiv bekämpfen wollen. Durch sie droht der Staat jenes Vertrauen zu verspielen, das wir gesellschaftlich unbedingt brauchen, um durch die kommenden Monate zu kommen. Die ungläubigen Reaktionen gerade aus der Kultur zeigen das deutlich. Hier sind in den vergangenen Monaten enorme Anstrengungen unternommen worden, um Kinos, Theater, Konzertsäle und Museen zu sicheren Orten zu machen, an denen zumindest kein nachweisliches Infektionsgeschehen seinen Ausgang genommen hat. Und diese Orte bleiben sicher. Nicht zu Unrecht verweisen Virologen bis heute darauf, dass sie eine Infektion in Theater- oder Konzertsälen für nahezu ausgeschlossen halten.

Dass die Orte der Kultur nun aber trotzdem geschlossen werden, hat wenig mit dem Risiko des Aufenthaltes an diesen sehr kontrollierten, auf Abstands- und Hygieneregeln bedachten Institutionen zu tun, aber sehr viel damit, dass Mediziner raten, insgesamt und generalisiert Kontakte und Bewegungen einzuschränken. Dies müsse sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum geschehen, um die Welle der Neuinfektionen zu brechen. Dabei werden auch Entscheidungen richtig, die sich falsch anfühlen, weil sie Grundrechte wie die Kunstfreiheit einschränken.

Es wird allerdings schwierig, diese Entscheidungen zu begründen, wenn es letztlich so wirkt, als stünden hinter ihnen nicht nur Evidenzen, sondern auch politische Wertungsentscheidungen. Der Eindruck, dass dem Staat die Religion wichtiger sei als Kultur, ist verheerend. Und dass ich mir auch in den kommenden Wochen weiter Socken in einem vollen Kaufhaus kaufen darf, mich aber nicht mit der Weltdeutung der Kunst in einem Museum auseinandersetzen kann, ist mindestens erklärungsbedürftig. Dass die Bürgerrolle weit über Arbeiten und Einkaufen hinausgeht, wird hier nicht ausreichend berücksichtigt.