Was macht diese Musik nur mit jungen Menschen? Die Rede ist nicht von US-Rappern, Boygroups oder singenden YouTubern. Nein, es geht um Alfred Schnittke.

Zwar reichte sein Popstatus über die kleine Gemeinde an klassischer Musik interessierten (oder interessiert sein sollenden) Jugendlichen natürlich nie hinaus. Doch innerhalb dieses Zirkels genoss der russisch-deutsche Komponist vor allem in den 80er- und 90er-Jahren hohe Anerkennung. Das galt für den Autor dieser Zeilen. Das galt auch für Daniel Hope, einen der vielleicht besten, bestimmt aber berühmtesten Geigern unserer Zeit.

Mit 15 Jahren habe er erstmals ein Stück von Schnittke gehört, erzählt er heute. Sein sehnlichster Wunsch: selbst diese Musik spielen zu dürfen. Noch an Ort und Stelle bat er um die Partitur, schrieb sich die Stimmen ab. Mit 18 erfuhr er auf einer Party durch Zufall, dass sein Idol in Hamburg wohnt. Er fuhr zu dem Haus, wollte eigentlich nur eine eigens aufgenommene Kassette einwerfen, nahm dann aber doch allen Mut zusammen und klingelte.

Daniel Hope war 15, als er erstmals mit Alfred Schnittkes Musik in Berührung kam. Jetzt widmet er dem Komponisten eine eigene CD.
Daniel Hope war 15, als er erstmals mit Alfred Schnittkes Musik in Berührung kam. Jetzt widmet er dem Komponisten eine eigene CD. | Bild: Britta Pedersen/dpa

Heute, mehr als 20 Jahre nach dem Tod des Meisters, widmet ihm der irische Musiker nun eine ganze CD. Werke von Alfred Schnittke, gespielt von Daniel Hope, veröffentlicht bei der Deutschen Grammophon, begleitet von einem beachtlichen Medienwirbel: Mehr kann man nicht machen, um diese herausragende Musik einem breiten Publikum zu erschließen.

Wer erklären will, warum dieses ganze Vorhaben, die Geschichte dahinter und nicht zuletzt die Einspielung selbst so großartig ist, der muss zuerst das Phänomen Schnittke ergründen. Was ist es, das ihn unterschied von der so verkopft, so elitär, so lebensfern anmutenden Komponistengilde seiner Zeit?

Ein wirklich Postmoderner

Die einfache Antwort wäre: dass er all dies gerade nicht gewesen ist. Die etwas komplizierte Antwort lautet: Er war sich nicht zu fein dafür, auf alte, vermeintlich längst überholte Ausdruckssprachen zurückzugreifen und von neuen, aber vermeintlich minderwertigen Ästhetiken zu lernen. Grenzüberschreitungen, Collagentechnik und Stilmix galten zwar als Merkmal dessen, was man seinerzeit „Postmoderne“ nannte. Wirklich postmodern allerdings waren nur die wenigsten Postmodernisten.

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Bei Alfred Schnittke hingegen konnte es geschehen, dass man glaubte, eine Mozart-Sonate zu hören, ehe man doch auf Schostakowitsch tippte, um plötzlich in einer Art Jazz zu landen. Wenn unterwegs mit seinem schwulstigen Pomp Hollywood vorbeischaute, war das nicht Kitsch, sondern ein souveräner Rückgriff auf die Anfänge: Schnittke hatte sich in jungen Jahren viel mit Filmmusik befasst und sah dieses Genre als gleichwertig an. Ja, dieser Komponist hatte keine Scheu davor, sein Publikum zu unterhalten, statt es nur mit eitler Geste zu überfordern.

Genau genommen ist Alfred Schnittke Brückenbauer zur musikalischen Avantgarde. Und vielleicht hatte er gerade deshalb einen Außenseiterstatus, weil die meisten Vertreter dieser Avantgarde in Wahrheit gar nicht wollten, dass das gemeine Volk den Weg zu ihnen findet.

Alte Musik, neu geschrieben

Daniel Hope will es ganz offenkundig. Sonst hätte er nicht die „Suite im alten Stil“ an den Beginn seiner Einspielung gesetzt: ein Stück Musik, das so wunderbar barock das Kaminfeuer knistern lässt, als habe es dreihundert Jahre in einem abgelegenen Archiv geschlummert. Dabei wurde es 1977 geschrieben.

Daniel Hope: „Schnittke: Works for Violin and Piano“, Deutsche Grammophon 2021; 15,46 Euro.
Daniel Hope: „Schnittke: Works for Violin and Piano“, Deutsche Grammophon 2021; 15,46 Euro. | Bild: Cover

Ganz allmählich tastet sich Hope vom Leichten zum Schweren vor. Man merkt der Polka und dem Tango noch nicht recht an, dass dieser Mann wie fast jeder große Künstler wenig zu lachen hatte im totalitären System der Sowjetunion. Daniel Hope selbst berichtet in einem Interview von einem Gespräch, das er einmal mit einem ehemaligen KGB-Offizier geführt habe. Er wollte von ihm wissen, was genau eigentlich die Staatsführung gegen Schnittke vorgebracht habe. Die Antwort: Er sei eben ein Punk gewesen, ein Nichtsnutz. So einfach war das.

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Mit der Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 wird die expressive Seite des Alfred Schnittke hörbar. „Violine gegen Klavier“ könnte dieses von aggressiver Ironie geprägte Werk auch heißen. Entstanden ist es in den 60er-Jahren, als Schnittke bei den Donaueschinger Musiktagen erstmals im Westen Furore machte: Aus jeder Note sprüht der Wille des noch jungen Komponisten, bestehende Formen zu sprengen und neu zusammenzubauen. Manchmal genügt dafür ein einziger Ton, beharrlich durchgehalten über alle Modulationen in der Klavierbegleitung hinweg – ob da nun eine Disharmonie kommt oder nicht.

Wie Daniel Hope diese Reizpunkte aufspürt, mal mit einer an E-Gitarre erinnernden Schroffheit, mal mit träumerischer Elegie, das ist einfach großartig.

Und wer glaubt, die Neuvertonung des Weihnachtsklassikers „Stille Nacht“ wäre nur ein billiger Rausschmeißer, täuscht sich gewaltig. Die Magie dieses einfachen Volkslieds entfaltet sich bei Schnittke auf eine schier unfassbar melancholische, schmerzvoll-schöne Weise. Man möchte es wieder und wieder hören. Was für ein Album!

Unangekündigte Störung

Und hat Alfred Schnittke dem jungen Daniel Hope nun auch die Tür geöffnet, als dieser den Mut fand, die Klingel zu betätigen? Nein, das hat er nicht. Es war nämlich seine Frau Irina. „Mit schüchterner Stimme stellte ich mich vor und entschuldigte mich für die unangekündigte Störung“, erinnert sich Hope an die Situation: „Ich fragte, ob ich mit dem Professor reden könne.“

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Zu seinem Erstaunen durfte er eintreten. Dort stand „ein nicht sehr großer Mann“, leicht gebeugt, gezeichnet von seinem zweiten Schlaganfall – nach dem ersten hatte er bereits als klinisch tot gegolten. Er habe dem 18-Jährigen seine Hand entgegengestreckt und gesagt: „Schnittke.“ Als hätte es der Vorstellung noch bedurft. 30 Jahre später prangt dieses Wort auf einer Einspielung, die zum Besten gehört, was man in unserer Zeit an musikalischen Neuerscheinungen geboten bekommt.