Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue I Programmheft I Komische Oper Berlin

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Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue



Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue Uraufführung am 10. Juni 2022 in der Komischen Oper Berlin


Ladies and gentlemen, welcome to the Catskill Mountains! Please enjoy an unforgettable night full of love, rhythm and emotion!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich willkommen in den Catskill Mountains! Erleben Sie einen unvergesslichen Abend voll von Liebe, Rhythmus und Gefühlen!

Khosheve damen un hern, leydis un dzhentlmen, brukhim haboim in di katskil-berg! Hot hanoe funem umfargeslekhn ovnt ful fun libe, ritem un gefiln!


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Nummernfolge 1. Abi gezunt (aus dem Film Mamele) (M: Abraham Ellstein; T: Molly Picon)

Mizzi Rubenstein and The Otto Pickle Dancers

2. Oy, volt ikh gevolt The Bagelman Sisters (aus dem Musical Vintsh mir mazl tov) (M: Jacob Jacobs; T: Isidore Lillian)

3. Bay mir bistu sheyn Hershel Baumann, Manny Renz (aus dem Musical Men ken lebn The Beth Shalom Singers and nor men lost nisht) The Otto Pickle Dancers (M: Sholom Secunda; T: Jacob Jacobs)

Bloye nekht fun Tel Aviv (M: Wassili Solowjow-Sedoi; T: Hilda Bronstein?; Chorarrangement: David Cavelius)

4. Makin’ Wicky-Wacky Down in Waikiki

Laverne Kalish and The Otto Pickle Dancers

(M+T: Al Hoffman / Burton Lane)

5. A Waste of Money Elvis, Elvis, Elvis and Elvis (Herb Alpert Medley) Tijuana Taxi (M: Ervan Coleman) A Waste of Money (M: Bobby Scott / Ric Marlow; T: Alan Sherman)

Spanish Flea (M: Julius Wechter) 6. Ikh bin a mame Sylvie Sonitzki (M: J. Jaffé; T: Jenny Goldstein / Morris Rund)

7. Nu, zog mir shoyn ven (aus der Operette Vos meydlakh toen)

Peggy and Cindy Rosenfeld

(M: Alexander Olshanetsky; T: Jacob Jacobs)

8. Mayn veg Representatives of the Air Travel Industry (M: Jacques Revaux; T: Herman Yablokoff)

9. Ikh vel vartn oyf dir Lola Levenshuss and The Otto Pickle Dancers (aus dem Musical Ikh bin farlibt) (M: Abraham Ellstein; T: Isidore Lillian)

10. Undzer ershter valts (Donauwellenwalzer) A Romantic Moment (M: Ion Ivanovici; T: Max Klettler)


11. Di grine kuzine Yossele Rosenblatt and his (M: Abe Schwartz?; T: Hyman Prizant?, Flat Foot Floozy Boys Jacob Leiserowitz?)

12. Shtarker fun libe (aus dem Musical Punkt mayn mazl)

Rosie Mehrlendamm and The Bela Fleck Orchestra

(M: Abraham Ellstein; T: Jacob Jacobs / Isidore Lillian)

13. A shvere togedike nakht The Freylakh Tripletts and The Otto Pickle Dancers 14. Zindele mayns (Sunny Boy) Mizzi Rubenstein (M: Buddy de Sylva / Ray Henderson; T: Wolf Gilbert)

15. Glik (aus dem Musical Der letster tants) (M: Alexander Olshanetzky; T: Bella Meisel;

Ruben Zellman and the Choir of Temple Beth Emmanuel

Chorarrangement: David Cavelius)

16. Ikh vil es hern nokhamol (aus dem Musical Ikh bin farlibt)

Chuck Moskovitz and The Seymour Rechzeit Band

(M: Abraham Ellstein; T: Jacob Jacobs / Isidore Lillian)

17. Ikh vil zikh shpiln Claire and Merna Epelbaum (M: Adolf King; T: Adolf King / Eddie Lambert)

18. Mickey Katz Medley Max Hoppelsteiner, Zelda Appelboim and The Otto Pickle Dancers Sixteen Tons (M: Merle Travis; T: Mickey Katz)

Don’t Let the Shmalts Get in Your Eyes (M: Winston L. Moore; T: Mickey Katz) Shlepping My Baby Back Home (M: Fred E. Ahlert; T: Mickey Katz)

How Much is That Pickle in the Window? (M: Bob Merrill; T: Mickey Katz)

Tweedle Dee (M: Winfield Scott; T: Mickey Katz)

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19. A brivele der mamen

A Mother

(M+T: Solomon Shmulowitz)

20. Barry Sisters Medley

The Barrie Kosky Sisters

Tropns fun regn oyf mayn kop (M: Burt Bacharach; T: Herman Yablokoff)

Bublitshki (M: Grigorij Bogomazov) Ketsele broygez (M+T: Jakob Jadov?) Bet mikh abisele (M: Abraham Ellstein; T: Jacob Jacobs) Sheyn vi di levone (M: Joseph Rumshinsky; T: Khayim Tauber) Zog es mir nokh amol (aus Der Berditshiver khusin) (M: Abraham Ellstein; T: Jacob Jacobs)

Vyokh tshyokh tshyokh (M: Joseph Rumshinsky; T: Moishe Oysher) Makin’ Whoopee (M: Walter Donadlson) 21. Der nayer sher Alle (M+T: Abraham Ellstein)

The Borscht Belt Swingers Klarinette Alt-Saxophon (auch Klarinette, Flöte und Piccolo) Tenor-Saxophon (auch Klarinette) Bariton-Saxophon (auch Bassklarinette) 3 Trompeten Tenorposaune Bassposaune Drum-Set (auch Schlagzeug und Pauke) Schlagzeug (Glockenspiel, Vibraphon, Marimbaphon, Tamburin, Glocke u. a.) Klavier Gitarre Streicher (Kontrabass auch E-Bass)

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»Wir sind Showboys and Showgirls!« Barrie Kosky über jiddische Kultur, die Catskills und den Abschied Dies ist Ihre letzte Produktion als Intendant der Komischen Oper Berlin. Warum eine Revue? Barrie Kosky Zum einen, weil jede Oper oder Operette, die ich gemacht hätte, eine enorme Bedeutung erhalten hätte. Eine Oper schien mir ohnehin nicht das Richtige. Und eine große Operette auch nicht, denn ich denke, dass ich im Moment mit der Jazzoperette der Weimarer Republik alles gesagt habe, was ich dazu sagen wollte. Als erstes dachte ich darüber nach, wer in dieser letzten Produktion mit dabei sein soll von all den Leuten, die in den letzten zehn Jahren hier auf der Bühne gestanden haben. Es war unmöglich, ein Stück zu finden, in dem alle mitspielen können. Es sollte ein Stück zum Feiern werden. Und ich wollte den Chor miteinbeziehen. Und natürlich sollte es irgendwie anders sein. Was konnte das sein? Keine Oper, keine Operette, kein Musical … So kam ich auf die Idee einer Revue. Keine Handlung, keine Psychologie, einfach eine tolle Nummer nach der anderen. Es sollte etwas sein, das mit der Arbeit der letzten Jahre und mit den Leuten, die zu ihrem Gelingen beigetragen haben, in Verbindung steht. Eines Tages kam mir dann die zündende Idee: eine Catskills East Coast Yiddish Revue! Wieso die Catskills? Barrie Kosky Ich liebe die Musik der jiddischen Ostküstenkultur der 1950er- und 60er-Jahre. Sie unterscheidet sich sehr von der Operettenmusik, die die Leute vor dem Krieg im Metropol-Theater gehört haben. Aber sie ist damit verbunden. Sie ist sozusagen der Urenkel der europäischen Operette und der Enkel des Jiddischen Theaters, das auch eine Art Operette ist. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Juden immer mehr Teil des amerikanischen Bürgertums. Die Kinder wuchsen heran und gingen aufs College, wurden Anwälte und Ärzte und als solche

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Gespräch mit dem Regisseur Teil der New Yorker middle und upper class. Aber wie die Afroamerikaner und Latinos waren auch die Juden nach wie vor von vielen Dingen des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen: Sie konnten zum Beispiel nicht Mitglied in einem Golfclub werden, sie konnten keine Loge in der Oper bekommen. Es gab keine Rassentrennung wie für Afroamerikaner, aber es gab eine Art inoffizieller Trennung. Und natürlich gab es einen grassierenden Antisemitismus in Hotels und öffentlichen Institutionen. Da sie also zu vielen Sommerhotels keinen Zutritt hatten, beschlossen sie, ihre eigenen zu bauen – weil sie es sich leisten konnten! So entstanden in ganz Amerika, vor allem aber in einer Gegend namens Catskill Mountains, eine Reihe von Hotels und Sommercamps. Sommerferienanlagen waren in Amerika sehr beliebt. Für sechs Wochen verließ die ganze Familie mit Oma und Opa, Kind und Kegel New York und fuhr in die Catskills, wo es Swimmingpools, jede Menge Aktivitäten, Kasinos und Restaurants gab. In gewisser Weise war es eine weitere jüdische Utopie. Das zieht sich ja durch die gesamte jüdische Geschichte: Wenn Juden ausgeschlossen wurden, bauten sie einfach ihre eigenen »Ghettos«, ihr eigenes Jerusalem. Summercamp Jerusalem! Im Grunde war es ein Kibbuz ohne Politik. Das begann in den 1920er- und 30er-Jahren und explodierte dann nach dem Krieg. Es gab große Clubtheater wie in Las Vegas und in Kalifornien, in denen Komödiant*innen und Nachtklubnummern, Tänze, Shows und Revuen, eine Kombination aus Vaudeville und Varieté zu erleben waren. Fast jede*r jüdische Darsteller*in trat dort auf: Mel Brooks, als er noch jung war. Bette Midler, als sie noch jung war. Danny Kaye, Eddie Cantor, Rodney Dangerfield, Joan Rivers, Sammy Davies Jr., Jerry Lewis, Barbra Streisand, Eddie Fischer – alle großen amerikanischen Entertainer*innen aus den 1950ern und 60ern ging in die Catskills, um dort aufzutreten. So wurde daraus ein weiteres kulturelles Laboratorium. Es gab Hollywood, es gab den Broadway – und es gab die Catskills! Eine Vielzahl der Künstler*innen und Komödiant*innen, die die Catskills hervorbrachten, machten Karriere, kamen ins Radio, traten im Fernsehen auf und wurden zu Stars der Unterhaltungsindustrie. Es war eine Fortsetzung der Tradition des Varietés des 19. Jahrhunderts, das auf den Bühnen Europas und in New Yorks Lower East Side das Publikum in Bann gezogen hatte und nun auf die Popmusik der 50er- und 60er und die in jenen Jahren aufkommenden lateinamerikanischen Einflüsse stieß. Da mischten sich Mambo- und Samba-Rhythmen mit Popsongs in jiddischer Sprache. Gott sei Dank ist das alles aufgezeichnet worden. Wir haben also eine riesige Fundgrube an Musik. Musik, die dem deutschen Ohr völlig unbekannt ist. 99% des hiesigen Publikums wissen nicht, was die Catskills sind, wie jiddische Revuen

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A bisl zin, a bisl reygn, Ein bisschen Sonne, ein bisschen Regen, a ruyik ort, dem kop tsi leygn, ein ruhiger Ort, den Kopf zu legen, abi gezint, ken men gliklekh zayn. solange man gesund ist, kann man glücklich sein. A shikh, a zok, a kleyd (on lates!), Ein Schuh, eine Socke, ein Kleid (ohne Flicken!), in keshene a dray, fir zlotes, in der Tasche drei, vier Złoty, abi gezint, ken men gliklekh zayn. solange man gesund ist, kann man glücklich sein.

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Molly Picon, Abi gezunt


Handlung

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Gespräch mit dem Regisseur der 1950er- und 60er-Jahre aussahen. Genau deshalb wollte ich eine Revue mit dieser Musik machen. Und wie wurden die einzelnen Titel gefunden? Barrie Kosky Adam Benzwi und ich steckten etwa anderthalb Jahre lang unsere Köpfe zusammen. Wir gingen Hunderte von Liedern durch und überlegten, wer welches davon singen könnte. Adam hat in einigen seiner Arrangements auf die Originalarrangements zurückgegriffen, in anderen Fällen hat er gemeinsam mit Daniel Busch wiederum ganz neue Arrangements geschrieben. Daraus haben wir eine Revue zusammengestellt, die hauptsächlich aus Gesang und Tanz bestehen und fröhlich sein sollte. Es soll ein Abschiedsgeschenk von mir an das Haus sein. Und umgekehrt ein Abschiedsgeschenk vom Haus und allen Künstler*innen an Berlin, als Dank für die letzten zehn Jahre. Einmal mehr möchte ich damit sagen: Die Nazis haben die jüdische Kultur nicht getötet. Die jüdische Kultur hat vielleicht nach dem Krieg in Europa an Bedeutung und Relevanz verloren. Aber sie war und ist bei Gott nicht tot. Sie ist eben einfach woanders hingegangen. Diese Revue ist ein weiterer Versuch, dem deutschen Hochkultur-Snobismus ein wenig die Augen für ein anderes Kapitel des kulturellen Lebens zu öffnen. Für mich ist es, nach all dem, was wir in den letzten zehn Jahren an diesem Haus gemacht haben, wundervoll, mit diesem köstlichen, entzückenden Bonbon abzuschließen. Was hat Sie bei der Auswahl der Interpret*innen geleitet? Barrie Kosky Die Revue sollte natürlich auch ein Dankeschön an einige der Darsteller*innen werden, die mich in den letzten zehn Jahren begleitet haben. Natürlich mussten Dagmar Manzel, Max Hopp und Katharine Mehrling mit dabei sein, und eine ganze Reihe von Ensemblemitgliedern, die wunderbare Arbeit geleistet haben. Eine bunte Mischung aus Sänger*innen des Ensembles, die gerne einen Ausflug in solch ein Repertoire machen, und mit dem Haus eng verbundene Gäste. Alle, die in den letzten zehn Jahren fabelhaft waren, konnte ich leider nicht unterbringen, sonst müsste sich das Publikum eine Woche lang jiddische Lieder anhören. Was vielleicht ganz nett wäre. Aber ich glaube, das würde am Ende ein bisschen anstrengend werden. Es ist ein Abschiedsgeschenk, das nur am Ende dieser Spielzeit in mehreren Aufführungen präsentiert wird und dann nie wieder … Barrie Kosky Ja, es ist eine einmalige Sache. All diese wunderbaren Menschen werden vermutlich nie wieder in dieser Kombination zusammenkommen. Die Show wird nicht ins Repertoire

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Gespräch mit dem Regisseur übernommen. Es soll ein historischer Moment am Ende dieser zehn Jahre sein. Damit schließe ich meine zehnjährige Tätigkeit als Intendant der Komischen Oper Berlin ab. Und nach ein paar Wochen Proben kann ich sagen, dass sich diese Idee als völlig richtig zu erweisen scheint. Wenn Sie auf die letzten zehn Jahre zurückblicken, wie sehr, glauben Sie, hat jüdische Kultur die Produktionen der Komischen Oper Berlin geprägt? Barrie Kosky Ich bin Jude und habe viel von meiner eigenen Persönlichkeit und meinen Überzeugungen darüber, was ich hier sehen wollte, in das Programm der Komischen Oper eingebracht. Aber das ist nur die eine Ebene. Die andere ist, dass ich den Geist des Publikums für andere Facetten der jüdischen Kultur öffnen wollte. Denn wenn man in Deutschland das Wort »Jude« erwähnt, geht es immer um Auschwitz und Nazis, oder um Israel und dessen aktuelle Politik. Das war’s. Die Schatzkammer der jüdischen und insbesondere der jiddischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts wird in der Regel einfach ignoriert. Wenn jiddische Kultur, dann nur in Form von Ghettoliedern wie »Es brennt« von Mordechai Gebirtig. Es ist unglaublich wichtig, dass die Erinnerung an die Shoah nie vergessen wird. Es ist unglaublich wichtig, aber ich denke, dass künstlerisch schon fast alles über dieses Thema gesagt wurde. Es gibt jedoch eine riesige Bibliothek von Theaterstücken, Operetten, Musik, Texten, die sich mit anderen Themen befassen. Ich möchte einfach zeigen, dass in der jüdischen Kultur nicht alle Wege nach Auschwitz führen. Es gab jüdische Künstler wie Paul Abraham, deren Musik von großer Lebensfreude spricht und die sich selbst nicht unbedingt als jüdische Künstler sahen. Das taten sie erst 1933, als ihre Werke verboten und sie selbst verfolgt wurden. Emmerich Kálmán, Oscar Straus, Paul Abraham und Mischa Spolanski – all diese Komponisten dachten, sie seien Teil eines europäischen Kulturprojekts. Sie waren wie Millionen andere auch schockiert, als man ihnen sagte: Ihr seid nicht Teil dieser Kultur. Ihr seid das Problem. Geht weg oder sterbt! Ich möchte nicht ein Publikum von 1.200 Menschen drei Stunden lang gefangen halten, um ihnen zu sagen, dass sie für immer schuldig sind. Ich halte das für nicht sonderlich konstruktiv. Ich halte es auch nicht für konstruktiv, wenn das Publikum die jüdische Kultur ständig nur mit dem Tod in Verbindung bringt. Das ist ungesund. Deshalb wollte ich in meiner Arbeit hier an der Komischen Oper zeigen, dass die jüdische Kultur, die ich hier erforscht habe, ein Teil der deutschen Kultur ist. Ich möchte, dass man diese Kultur feiert und sich zu eigen macht, so wie ich es tue. Denn dies alles konnte nur hier in einer ganz besonderen Zeit der deutschen Geschichte entstehen.

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Gespräch mit dem Regisseur Dafür sollten wir dankbar sein, auch ein bisschen wehmütig, dass es nicht weiterging, aber letztlich froh, dass die Schöpfungen dieser Kultur noch existieren. Dass wir die Musik noch hören, die Stücke noch erleben können. Das war und ist mir ein großes Anliegen. Die Wurzeln des Catskill-Repertoires liegen auch irgendwie in Europa. Barrie Kosky Oh, absolut. Sie liegen in der Jiddischen Operette und im Jiddischen Theater. Und das wiederum hat seine Wurzeln in der europäischen Operettenkultur vor dem Krieg. Denn die Eltern und Großeltern der Künstler*innen, die für und in den Catskills geschrieben und gesungen haben, hörten Kálmán, Abraham, Straus, Spolianski und Kurt Weill. Die Revue ist also musikalisch sehr eng mit der Arbeit verbunden, die wir in den letzten zehn Jahren hier präsentiert haben. Wie fühlt es sich ganz persönlich an, die Intendanz der Komischen Oper Berlin nach zehn Jahren mit dieser Revue zu beenden? Barrie Kosky Ich gehe, weil ich gehen wollte. Ich habe beschlossen, dass ich nach zehn Jahren intensiver Arbeit für dieses Haus aufhören möchte. Im Moment befinde ich mich in einem Wechselbad der Gefühle: Jedes Mal, wenn auf den Proben ein emotionaler Song gespielt wird, werde auch ich sehr emotional. Ich bin sicher, in den nächsten Wochen werden da noch einige Tränen fließen. Aber wir sind Theater. Wir sind Showboys und Showgirls. Das ist das Theater: Es kommt, es ist fantastisch, es geht. Wir sind keine Film- und Fernsehleute, wir sind keine bildenden Künstler, bei denen die Produkte ihrer Kunst Bestand haben. Wir stehen in der Tradition der darstellenden Kunst, in der es um Geburt und Tod geht. Etwas wird erschaffen und stirbt wieder. Das ist der Kern dessen, was Theater ist. Aber mein Ende als Intendant ist ja kein kompletter Abschied. Ich werde ja auch in den kommenden Jahren regelmäßig an der Komischen Oper Berlin arbeiten. So endet auch die Revue mit einem Ausblick, mit einem neuen Tanz: »Der nayer sher«. Barrie Kosky Ja, Adam und ich wollten die Show mit einem fröhlichen Tanz enden. Es ist das Ende und es ist der Anfang. Vielen Dank. Good night, turn off the lights, let’s go home, see you tomorrow …

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Gespräch

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Gespräch

I went to woik in a delicatessen,

Ich ging arbeiten in einem Feinkostladen,

far draysik dollar un plenty tsu fresn.

für dreißig Dollar und viel zu fressen.

Di balabost promised me a real gedile.

Die Chefin versprach mir ein echtes Geschäft,

Instead of gedile, I catched me a kile.

anstatt eines Geschäfts holte ich mir einen Leistenbruch.

You load sixteen tons of hart salami,

Man lädt sechzehn Tonnen harte Salami,

corn beef, roll beef and hot pastrami,

Corned Beef, Rinderrollbraten und heiße Pastrami.

I hak arayn evrything gits tsu esn.

Ich pack mir alles Gute zu essen ein.

I owe my neshume to the delicatessen.

Ich schulde meine Seele dem Feinkostladen.

Mickey Katz, Sixteen Tons

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Bublitschki, Comedy und Samba Jüdische Kultur im »Las Vegas der Ostküste« von Ulrich Lenz

»K

ellerman’s we come together singing all as one / We have shared another season’s talent, play and fun«, singt am Ende des 80er-Jahre Kultfilms Dirty Dancing die Belegschaft von Kellerman’s Hotel den hoteleigenen Werbesong. »Daytime, nighttime, any hour whether rain or shine / Games and lectures, talks and music happily combine«, preist die Hymne das reichhaltige Unterhaltungsangebot des Hotels, in dem Magen, Herz und Intellekt befriedigt werden: »Not a stress or strain is found here for it must be said / Here at Kellerman’s you gladdened stomach, heart and head.« Nur wenigen Kinobesucher*innen und Fernsehzuschauer*innen hierzulande dürfte bewusst sein, dass der Ort, an dem die von Jennifer Grey gespielte Frances »Baby« Houseman mit ihrer Familie die Sommerferien verbringt und sich in den Tänzer Johnny alias Patrick Swayze verliebt, nicht irgendein beliebiges Hotelresort im Amerika der 1960er Jahre ist. Das Kellerman’s ist zwar ein fiktiver Ort, nimmt aber Bezug auf die Hotels in den Catskill Mountains 100 Kilometer nördlich von New York, die fast ein Jahrhundert lang in den Sommermonaten zu einem »jüdischen Eden« wurden. Denn hierhin entflohen jüdische Familien der in den Straßenschluchten des Big Apple brütenden Sommerhitze. Und hier blühte in den 1950er- und 60er-Jahren eine Hotel- und Unterhaltungsindustrie, die der Gegend den Beinamen eines »Las Vegas der Ostküste« eintrug. Die Anfänge der Catskill Mountains als Urlaubsort liegen bereits am Ende des 19. Jahrhunderts. Weil jüdischen Mitbürger*innen bis tief in die 1950er-Jahre der Zutritt zu vielen Hotels in den Vereinigten Staaten verwehrt war – »No Dogs! No Jews!« annoncierten nicht wenige davon ganz unverhohlen –, erwarben einige New Yorker Juden zum Verkauf stehende Bauernhöfe in 22


Bublitschki, Comedy und Samba Upstate New York und verwandelten sie in Pensionen. Was als »Ferien auf dem Bauernhof mit Milch von echten Kühen und Eiern von echten Hühnern« begann, nahm ab den 1920er Jahren einen gewaltigen Aufschwung und entwickelte sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Ballungsraum von Feriensiedlungen und groß angelegten Hotelkomplexen, die eine Art Cluburlaub mit Rundumversorgung anboten – Swimmingpool, reichhaltiges Buffet, Unterhaltungsprogramm und Heiratsvermittlung inklusive. Die Gäste aus New York entstammten allen Schichten, und so gab es auch hinsichtlich des Angebots an Unterkünften ein Dreiklassensystem: Die einfachsten und billigsten Unterkünfte waren die sogenannten kuchaleyns, schlichte Unterkünfte mit Gemeinschaftsküche. Etwas komfortabler waren die Feriensiedlungen mit kleinen Bungalows. Auf der höchsten Stufe standen die Hotels, die im Laufe der Jahre zu riesigen Ferienanlagen mit großen Speisesälen, Veranstaltungsräumen und Swimmingpools ausgebaut wurden. Grossinger’s, Brown’s, Kutsher’s, das Nevele, das Concord – manche Namen besitzen in den USA bis heute einen gewissen Klang, wecken Erinnerungen an eine große, längst vergangene Zeit. Die Hausherrin des Grossinger’s, Jennie Grossinger, war eine weit über die Grenzen der Catskill Mountains hinaus bekannte Größe. In den Catskills war es nicht ungewöhnlich, dass Frauen an der Spitze der Betriebe standen: »In der Tradition des Matriarchats und der Verehrung der jüdischen Mutter waren Frauen als Repräsentantinnen das Markenzeichen der meisten größeren Catskill Resorts.« (Stephen Silverman und Raphael Silver, In The Catskills: Its History And How It Changed America) Einerseits fühlte man sich wie »bei Muttern« zuhause, andererseits wollte man sich vom Zuhause erholen. Die Welt der Catskills war auf der einen Seite familiär und vertraut, gleichzeitig war es eine Welt für sich, in der man als Gast so tun konnte, als sei man jemand anderes. »You gladdened stomach, heart and head.«

Essen spielte eine enorm wichtige Rolle in den Catskill Mountains. Viele der Gäste hatten in Europa Krieg und Verfolgung am eigenen Leib erlebt. Nach den Jahren der Entbehrungen war ein Überangebot an Essen wesentlicher Bestandteil eines gelungenen Urlaubs. In Anlehnung an den christlichen Bible Belt im konservativen Süden der USA wurden die Catskill Mountains zum »Borscht Belt« ernannt. Dabei gab es mehr als nur Rote-Beete-Suppe: Gefilte Fish, mit Lachs und anderen Belägen gefüllte Bagels, häufig in ihrer osteuropäischen, Bubliki oder Bublitschki genannten Variante, Hühnchen und endlose Mengen von Sour Cream, weshalb der »Borscht Belt« wahlweise auch als »Sour Cream Sierra« oder »Sour Cream Alpen« bezeichnet wurde.

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Bublitschki, Comedy und Samba In jungen Jahren verdingte sich der später zu Ruhm gelangende Komiker, Regisseur und Theaterproduzent Mel Brooks in den Sommermonaten als Aushilfskellner (busboy) in den »Sour Cream Alpen«: Der Job war nicht leicht. Ich wurde der Sour Cream Station zugewiesen. Ich sollte eine große rostfreie Metallschüssel, bis an den Rand mit Sour Cream gefüllt (sie wog etwa so viel wie ich), von der Küche in den Speiseraum bringen und, sobald sie leer war, zurück in die Küche eilen, um sie neu zu befüllen und wieder zurückzubringen. Aus irgendwelchen Gründen hatten die Juden im Borscht Belt einen seltsamen Hang zu Sour Cream. Sie liebten sie auf ihren Plinsen. Sie liebten sie auf ihren Kartoffelpuffern. Sie liebten sie auf ihrem geschnittenen, knackigen Gemüse, ihren Rettichen, Selleriestangen, Karotten usw. Und wenn niemand hinsah, schlangen sie sie einfach so mit einem großen Suppenlöffel hinunter. Woody Allen, der als Teenager die Ferien mit seinen Eltern in einem kuchaleyn in den Catskills verbrachte und sich dort als Zauberer Geld hinzuverdiente, erzählt zu Beginn seines Films Der Stadtneurotiker (Annie Hall) einen typischen Catskill Witz: Zwei ältere Damen sitzen in einem Catskill Mountain Resort Hotel mit Vollpension. Sagt die eine zur anderen: »Also das Essen hier ist wirklich schrecklich!« Sagt die andere: »Ja, stimmt! Und diese winzigen Portionen!!!« »Games and lectures, talks and music happily combine.«

Zwischen den Mahlzeiten wurde ein reichhaltiges Unterhaltungsprogramm angeboten, das sich über die Jahre immer mehr erweiterte. Bowling und Billard, Tanz und Musik, Theater und Shows, Schwimmen und Reiten, Tennis und Golf. Hatten Juden in den meisten Golfclubs des Landes keinen Zutritt – in den Catskill Mountains konnten auch sie sich nach Lust und Laune dieser statussymbolträchtigen Sportart widmen. Die großen Hotels überboten sich gegenseitig mit ihren Swimmingpools: Während das Grossinger’s einen großen Innenpool umgeben von sechs Meter hohen Glasfenstern besaß, trumpfte das Pines mit einem Außenpool in Form eines Wales auf, über den eine orientalische Brücke führte, die die Umkleidehäuschen mit dem für Tanz vorgesehenen »Bambus-Raum« verband. So genannte »tummlers« wurden engagiert – Animateure, die sich zwischen den Gästen tummeln, Witze reißen oder für irgendwelche Unterhaltungsprogrammpunkte die Werbetrommel rühren sollten. (Auch in Dirty Dancing gibt es solch einen »tummler«, eine wahre Nervensäge, die mit Hilfe eines Megaphons die Gäste mit Ankündigungen zu Tanzkursen und Perückenwettbewerben dauerbeschallt.) In den Catskills herrschte Frauenüberschuss. Selbst verheiratete Frauen waren nicht selten alleine, denn viele Familien blieben oft den ganzen Sommer über, die Ehemänner aber konnten es sich nicht leisten, so lange Urlaub zu nehmen und pendelten deshalb immer am 24


Bublitschki, Comedy und Samba Wochenende von New York in die Catskills. Die Hotelunternehmer reagierten auf die Situation, indem sie Collegestudenten als Aushilfskellner engagierten, die die Gäste nicht nur bedienen, sondern auch als Gesellschafter unterhalten sollten. »Seien Sie nett zu Ihrem Kellner«, lautete die Parole im Grossinger’s. »Wenn er nächstes Jahr seinen Abschluss macht, könnte er es sein, der Ihr Magengeschwür behandelt!« Derlei Studenten waren natürlich auch vielversprechende Heiratskandidaten für die Töchter der Erholung suchenden Familien. In gewisser Weise waren die Catskills das größte jüdische Eheanbahnungsinstitut der USA. Die erotisch aufgeladene Atmosphäre, die in Dirty Dancing nicht nur »Baby« erfasst, ist also keine Zutat der Filmemacher. Die Catskills waren der Ort, an dem in den 1950er- und 60er-Jahren viele junge Frauen ihren ersten Flirt, ihren ersten Sex, ihren ersten Liebeskummer erlebten. (Ein als Aushilfskellner arbeitender angehender Medizinstudent ist es auch, der in Dirty Dancing Johnny Castles Tanzpartnerin Penny schwängert, wodurch Frances »Baby« zur unverhofften Einspringerin wird …) »Talent, play and fun«

Viele jüdische Sänger*innen, Schauspieler*innen und Komiker*innen machten ihre ersten Schritte auf den Bühnen der Catskill Hotels. In mancherlei Hinsicht ist der »Borscht Belt« der Geburtsort der amerikanischen Stand-Up-Comedy. Der mit Filmen wie Weiße Weihnacht oder Der Hofnarr berühmt gewordene Komiker Danny Kaye begann als »tummler« in den Catskills. Sid Caesar, dem US-amerikanischen Publikum durch seine Fernsehshows der 1950er-Jahre bekannt, kam im Alter von 14 Jahren als Saxophonist in einer Band in die Catskills, wo er gelegentlich auch in Sketchen mitwirkte. Derlei Sketche sollten sein Markenzeichen werden. Unter den Autoren dieser Sketche befanden sich zwei andere Gäste der Catskills: Mel Brooks und Woody Allen. In Allens Film Broadway Danny Rose über einen glücklosen Künstleragenten (gespielt von Allen) tritt der Komiker Milton Berle als er selbst auf. Berle wirkte schon als Kind in Stummfilmen mit und hatte in den 1950er-Jahren eine erfolgreiche TV-Show. Er trat ebenso in den Catskills auf wie seine Komiker-Kollegen Henry Youngman, »the King of the one-liners«, und Jackie Mason, der ebenfalls als Aushilfskellner begonnen hatte: »Zwanzig Minuten im Pearl Lake Hotel und ich hatte alle Teller kaputt gemacht. Sie gaben mir einen Job als Bademeister. ›Aber ich kann gar nicht schwimmen!‹, sagte ich zum Hoteldirektor. Darauf er: ›Sag das nicht den Gästen!‹« Jerry Lewis trat schon im Alter von fünf Jahren als Clown in den Catskills auf. Seine Eltern tingelten wie viele Unterhaltungskünstler*innen in den Sommermonaten von Hotel zu Hotel.

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Bublitschki, Comedy und Samba Ich liebte es, in den Mountains zu sein, erinnerte sich Mel Brooks später. Wenn ich meine Pflichttour als Aushilfskellner beendet hatte, rannte ich immer zu den anderen Hotels wie dem Brown’s, dem Nevele und dem berühmtesten von allen, dem Grossinger’s (für das ich später einen Sommer lang arbeitete), um die Auftritte der Komiker zu sehen. Comedians wie Henry Youngman, Jan Murray, Mickey Katz, Jackie Vernon usw. Einer meiner Lieblinge war Myron Cohen. Später in meinem Leben stahl ich ihm einen seiner besten Witze (natürlich nicht, ohne ihn zu erwähnen!). Der geht so: »Ein Typ kommt in ein Lebensmittelgeschäft und sagt zu dem Verkäufer: ›Ich hätte gerne ein Pfund Lachs, 400g Frischkäse und …‹ Er stockt, weil er irritiert die Ladenregale bemerkt, die ausschließlich mit Hunderten von Schachteln Salz gefüllt sind. Er sagt zum Verkäufer: ›Sie haben so viele Schachteln Salz in ihren Regalen. Ich habe noch nie so viel Salz gesehen! Entschuldigen Sie, dass ich frage, aber … verkaufen Sie so viel Salz?‹ Der Verkäufer antwortet: ›Hm … um Ihnen die Wahrheit zu sagen: Wenn ich eine Schachtel Salz pro Woche verkaufe, bin ich schon froh. Nein, ich verkaufe nicht viel Salz. Aber der Typ, der mir Salz verkauft … MAN, KANN DER SALZ VERKAUFEN!‹« Als Einspringer im Stück Uncle Harry gelingt Mel Brooks dann der Sprung auf die Bühne. Durch ein Missgeschick erntet der Auftritt die Lacher des Publikums – und Brooks entdeckt sein Talent als Comedian. Dem Verantwortlichen für das Unterhaltungsprogramm ist zwar nicht nach Lachen zumute, aber der Hotelbesitzer macht Brooks zum »pool tummler«. Seine Witze bleiben nicht auf das Poolpublikum beschränkt. Er schreibt für andere Comedians und tritt auch bald selbst als ein solcher auf. »... singing all as one«

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eben Comedy sorgte auch ein reichhaltiges musikalisches Programm für die Unterhaltung der Gäste. Die großen Hotels engagierten Bands und Orchester mit zum Teil populären Bandleadern: Im Grossinger’s spielten Tito Puente und sein »world famous orchestra« zu Jazz-, Salsa- und MamboRhythmen auf. (Die Einleitung der ersten Nummer des heutigen Abends zitiert das traditionelle Opening von Tito Puentes Auftritten im Grossinger’s.) Sänger Eddie Fisher wurde in den Catskills zum Star. Seine Ehen und Scheidungen, unter anderen mit und von Debbie Reynolds und Elizabeth Taylor, trugen durchaus auch zur Unterhaltung des Publikums bei – und boten ebenso wie das Publikum selbst wiederum reichhaltigen Stoff für die Witze der Comedians. In den großen Zeiten fanden auch Hollywoods Superstars wie Marlene Dietrich, Judy Garland oder Sammy Davies Jr. ihren Weg in das »Las Vegas des Ostens«. Sogar

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Bublitschki, Comedy und Samba die (jüdischen) Stars der Metropolitan Opera wie Robert Merrill, Richard Tucker oder Jan Peerce traten im »Borscht Belt« auf. Der größere Teil des musikalischen Unterhaltungsprogramms bestand jedoch aus bekannten Songs und Liedern, bisweilen in Form von Textparodien wie Allan Shermans Version des durch Herb Alpert berühmt gewordenen »A Taste of Honey«, das bei Sherman zu »A Waste of Money« wird (und im Arrangement von Adam Benzwi von zwei anderen großen Hits aus dem Repertoire von Herb Alpert – »Tijuana Taxi« und »Spanish Flea« – umrahmt wird). Viele Songs entstammten dem Repertoire des mit seiner Mischung aus Musiknummern und gesprochenen Dialogen der Operette und dem Musical verwandten Jiddischen Theaters. Die Komponisten dieses einzigartigen, heutzutage fast ausgestorbenen Genres, das Alma Sadé, Helene Schneiderman und Barrie Kosky mit ihrem zum ersten Mal 2015 präsentierten Liederabend Farges mikh nit ein wenig der Vergessenheit entrissen haben, waren die »big four of Second Avenue«: Sholom Secunda, Joseph Rumshinsky, Alexander Olshanetsky und Abraham Ellstein. (Die Second Avenue in Manhattan war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »Yiddish Theater District« oder »Yiddish Broadway« bekannt.) Die später auch zu filmischem Ruhm gelangte Sängerin und Schauspielerin Molly Picon begann ihre Karriere im Jiddischen Theater. Abraham Ellstein schrieb für sie die Musik zu zwei in jiddischer Sprache gedrehten Filmen: Mamele und Yidl mitn fidl. Aus Mamele stammt das Lied »Abi gezint« (»Solange du gesund bist«), zu dem Molly Picon selbst den Text geschrieben hatte und das zu einem ihrer Erkennungsstücke wurde – und das den heutigen Abend eröffnet. Die Verbindungen zwischen dem Jiddischen Theater und dem »Borscht Belt« waren nicht nur durch das Repertoire gegeben: Ein anderer Komponist der »big four«, der in Odessa in der heutigen Ukraine geborene Alexander Olshanetsky, war der erste Musikalische Leiter im Concord Hotel! Bedingt durch seinen verfrühten Tod, folgte ihm nach nur einem Jahr Sholom Secunda in dieser Position, der neben vielen Kompositionen für Film und Theater auch den Welterfolg »Bey mir bistu shein« schrieb. Ursprünglich 1933 für die wenig erfolgreiche jiddische Musical Comedy I Would if I Could entstanden, machten die drei Andrew Sisters den Song vier Jahre später zu einem ihrer bekanntesten Hits – woraufhin zwei andere Schwestern, die Bagelman Sisters, ihren Namen in The Barry Sisters änderten. Von 1937 bis in die 1950er-Jahre traten die Barry Sisters in Dick Mannins Radiosendung »Yiddish Melodies in Swing« auf WHN auf. Immer wieder aber tourten sie auch durch die Catskill Hotels. Zu ihrem Repertoire gehörten zahlreiche populäre Songs, übersetzt ins Jiddische, wie z. B. »Raindrops Keep Fallin’ on My Head« (»Trop’ns Fin Regen Oif Mein Kop«). Abraham Ellsteins 1940 für die Barry Sisters komponierter Hochzeitstanz »Der nayer sher« wiederum wurde 31


Bublitschki, Comedy und Samba umgekehrt »amerikanisiert« zum »Wedding Samba«, interpretiert unter anderen von Edmondo Ros und seinem Orchester oder Carmen Miranda und – den Andrew Sisters! Auf der Höhe ihrer Karriere hatten die Barry Sisters Fernsehauftritte in der Ed Sullivan Show oder The Tonight Show. In beiden Shows war auch die in Russland geborene Sophie Tucker, »the last of the red-hot mamas«, ein gern gesehener Gast, gleichwohl von ganz anderem Kaliber als die Barry Sisters. Die international erfolgreiche Schauspielerin, Sängerin und Komikerin, eine der populärsten US-amerikanischen Unterhaltungskünstler*innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, war bekannt für ihre kraftvolle Darbietung komischer und provokativer Songs. Dabei ging sie oft selbstbewusst und offensiv mit ihrer körperlichen Fülle um: »I Don’t Want to Get Thin« und »Nobody Loves a Fat Girl, But Oh How a Fat Girl Can Love« lauteten zwei ihrer Songtitel. Genüsslich offen sprach und sang sie auch über Sex: »Makin’ WickyWacky Down in Waikiki« sang sie anzüglich, oder auch »I May be Getting Older Every Day, but Getting Younger Every Night«. Für Kontroversen sorgte sie mit ihrem Song »Mr. Siegel«, in dem sie die Geschichte eines Mädchens erzählte, das von seinem Chef geschwängert wird, darin die Zeile »Mr. Siegel, please make it legal«. Wie bei Sophie Tucker gingen auch bei Mickey Katz Comedy und musikalische Unterhaltung eine fruchtbare Verbindung ein. Katz begann als Klarinettist in verschiedenen Jazzbands, wurde Bandleader und gründete schließlich eine eigene Band: Mickey Katz and His Krazy Kittens. Ab 1958 trat er regelmäßig in den Catskills auf, wo er berühmt für seine jiddisch-englischen Parodien bekannter Songs wurde, wie z.B. »How Much is that Doggie in the Window«, das bei Katz zu »How Much is that Pickle in the Window« wird. »Walking My Baby Back Home«, 1952 in der Interpretation von Nat King Cole und Johnnie Ray ein Top Ten Hit, wird bei Katz zu »Shlepping My Baby Back Home«. Und aus »Don’t Let The Stars Get in Our Eyes« macht Katz »Don’t Let the Shmalts Get in Your Eyes«, womit wir wieder beim Essen und dessen Bedeutung für die Besucher*innen der »Sour Cream Alpen« wären … Da das Publikum nahezu ausschließlich aus jüdischen Zuschauer*innen bestand, war das Jiddische und zahlreiche Bezüge zur jüdischen Kultur wesentlicher Bestandteil der Unterhaltungsshows in den Catskill Mountains. Jüdische Comedians und Schauspieler*innen probierten sich und ihre Programme im »Borscht Belt« aus und trugen das Erprobte und damit auch die besondere Kultur, die in diesem »jüdischen Eden« erblüht war, ins ganze Land. Der »Borscht Belt« hat die DNA der gesamten amerikanischen Unterhaltungsindustrie geprägt – bis heute!

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Bublitschki, Comedy und Samba »Summer days will soon be over, soonly autumn starts ...«

Ende der 1960er-Jahre beginnt der Niedergang der Catskill Mountains. Die mittlerweile allgemein erschwinglichen Klimaanlagen machten den Sommer in New York erträglich, das neue Massenmedium Fernsehen bot Unterhaltung frei Haus. Umgekehrt waren Auftritte im Fernsehen für die Entertainer*innen attraktiver als das anstrengende Tingeln über die Ferienbühnen. Der allgemeine Wohlstand ließ viele Stammgäste, statt in den Norden zu fahren, ins südliche Florida fliegen. Und der Antisemitismus stellte zumindest kein so offenes Problem mehr dar. Mehr und mehr blieben die Besucher*innen aus, die Hotels verfielen, wurden schließlich abgerissen oder umfunktioniert. »Irgendwie geht das hier alles zu Ende«, seufzt auch Hoteldirektor Kellerman am Ende von Dirty Dancing. »Glaubst du, dass die Kids mit ihren Eltern herkommen wollen, um Foxtrott-Stunden zu nehmen?«, fragt er seinen Bandleader. »Trips nach Europa – das ist, was die Kids wollen. 22 Länder in 3 Tagen!« Sie kamen noch einmal, sogar viele von ihnen, aber nicht, um sich an den Swimmingpools der Hotels zu vergnügen oder jiddische Songs zu hören, sondern um für Frieden und freie Liebe zu demonstrieren und den Klängen von Joe Cocker, Janis Joplin, Ravi Shankar und Joan Baez zu lauschen: Woodstock liegt am Rande der Catskill Mountains! Dass das Festival am Ende gar nicht in der Kleinstadt, nach der es benannt ist, stattfand, schien in gewisser Weise die Geschichte zu wiederholen: So wie man viele Jahrzehnte zuvor ebendort Juden ablehnte, so wollte man nun die langhaarigen Hippies nicht in der Stadt haben. Im 65 Kilometer entfernt gelegenen Bethel in Sullivan County, dort wo die meisten Ferienanlagen der Catskills lagen, stellte der jüdische Bauer Max Yasgur für 50.000 Dollar seine Kleeund Kornfelder den Musik- und Friedensbegeisterten zur Verfügung. »Join hands and hearts and voices / Voices, hearts and hands / At Kellerman’s the friendships last long / As the mountains stand!« – Kellerman’s Hotelsong scheint den Geist Woodstocks wahrhaft prophetisch vorwegzunehmen. Kann es da ein Zufall sein, dass Jennifer Grey alias Frances »Baby« Houseman die Enkelin von Mickey Katz ist? – In Alexander Olshanetskys für das Stück Der letster tants auf einen Text seiner Frau Bella Meisell geschriebenen Song »Glik« (der heute in einem Arrangement für Chor erklingt) heißt es: »Ihk sthey atsind in trakht, vus far a shtarke makht der shikzal hot oyf yeydn mentshn.« (»Ich steh hier und denke, was für eine starke Macht das Schicksal auf jeden Menschen hat.«)

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Bublitschki, Comedy und Samba

Hey, di klezmer, nem dayn fidl! Shpil dus naye lidl! Tantsn vet men dem nayem sher. In a karahod men dreyt zikh, in dus harts derfreyt zikh, nor ven men tanst dem nayem sher. Hekher, hekher, bis di stelye shpringt der zeyde Elye, es vilt zikh leybn im vus mer. Di bube Sosye kvelt fin nakhes. Sonim: oyf tsi lakhes! Tantsn vet men dem nayem sher. Hey, Musiker, nimm deine Fiedel! Spiel das neue Liedchen! Tanzen wird man den neuen Hochzeitstanz. Im Kreis dreht man sich, und das Herz erfreut sich, wenn man den neuen Hochzeitstanz tanzt. Höher, höher bis zur Decke springt der Opa Elias, er möchte noch mehr leben. Die Oma Suse platzt vor Vergnügen. Ihr Feinde, zur Hölle mit euch! Tanzen wird man den neuen Hochzeitstanz.

Abraham Ellstein, Der nayer sher

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Herausgeber Komische Oper Berlin Dramaturgie Behrenstraße 55–57, 10117 Berlin www.komische-oper-berlin.de Intendant Generalmusikdirektor Geschäftsf. Direktorin Redaktion Fotos Layoutkonzept Gestaltung Druck

Barrie Kosky Ainārs Rubiķis Susanne Moser Ulrich Lenz Monika Rittershaus State, Design Consultancy Hanka Biebl Druckhaus Sportflieger

Premiere am 10. Juni 2O22 Musikalische Leitung Adam Benzwi Inszenierung Barrie Kosky Choreographie Otto Pichler Kostüme Klaus Bruns Dramaturgie Ulrich Lenz Chöre David Cavelius Licht Franck Evin Quellen Texte

Das Gespräch mit Barrie Kosky führte Ulrich Lenz. Der Artikel von Ulrich Lenz ist ein Originalbeitrag für dieses Heft.

Bilder Fotos von der Klavierhauptprobe am 2. Juni 2O22 Titel Tänzerinnen Umschlag vorne innen Helmut Baumann, Peter Renz, Tänzerinnen S. 3 Barbara Spitz, Tänzer S. 7 Alma Sadé, Helene Schneiderman S. 8/9 Philipp Meierhöfer, Peter Renz, Ivan Turšić, Dagmar Manzel, Tänzer*innen S. 13 Alma Sadé S. 17 Sigalit Feig, Tänzer S. 18 Ruth Brauer-Kvam, Katharine Mehrling S. 19 Dagmar Manzel S. 20 Andreja Schneider, Max Hopp S. 26/27 Dominik Köninger, Tänzerinnen S. 28/29 Andreja Schneider, Tobias Bonn, Christoph Marti, Tänzer*innen S. 34 Ruth Brauer-Kvam S. 36/37 Solist*innen, Chorsolist*innen, Tänzer*innen Umschlag hinten Katharine Mehrling


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Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue


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