Die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschwindigkeiten

Der Komponist György Ligeti

György Ligeti
(Foto: akg-images / brandstaetter images / Otto Breicha)

Ob Musik des Mittelalters oder aus Zentralafrika: György Ligeti interessierte sich für fast alles. Seine unerschöpfliche Neugier führte dazu, dass er auch in seinen eigenen Werken alle nur denkbaren Ausdrucksformen erprobte. Ein Schaffen entstand, das durch Einfallsreichtum, Expressivität und nicht zuletzt Humor beeindruckt.

György Ligeti hat Musik für fast alle Gattungen geschrieben, klein und groß besetzt, instrumental und vokal, für Konzertpodium und Bühne. In seiner Jugend führte er das Erbe Béla Bartóks fort und beschäftigte sich, forschend, komponierend und unterrichtend, mit der Volksmusik seiner ungarischen Heimat; später gehörte er eine Zeitlang der radikalen Avantgarde an und gelangte schließlich zu einer Synthese aus Altem und Neuem. Unzählige Anregungen hat er aufgenommen, etwa von der Musik der mittelalterlichen Mensuralnotation, der mehrdimensionalen Polyfonie bei Guillaume de Machaut und den metrischen Überlagerungen bei Guillaume Dufay. Er ließ sich inspirieren von den polyrhythmischen Pianola-Studien eines Conlon Nancarrow, von der Musik der zentralafrikanischen Aka-Pygmäen, von den Mandelbrot-Mengen der Mathematik und nicht zuletzt vom Jazz. Aber keine Angst: Wie komplex auch immer die Strukturen und Einflüsse sind, die seinen Kompositionen zugrunde liegen – die Musik ist stets sinnlich, auf Ausdruck und Wirkung hin gedacht.

1923 als Kind jüdischer Eltern in einer siebenbürgischen Kleinstadt geboren, wollte der junge György eigentlich Physik studieren, doch das war ihm als Juden verwehrt – so begann er eine musikalische Ausbildung am Konservatorium in Cluj (Klausenburg). Nach Arbeitsdienst in der ungarischen Armee und sowjetischer Gefangenschaft konnte er selbst zwar 1944 fliehen, seinem Vater und seinem Bruder aber brachte die Judenverfolgung den Tod im Konzentrationslager; die Mutter überlebte als Lagerärztin in Auschwitz.

Nach dem Krieg studierte Ligeti Komposition in Budapest bei Sándor Veress und Ferenc Farkas und unterrichte anschließend dort selbst Musiktheorie. 1956 floh er in der Folge des ungarischen Volksaufstands nach Österreich; von Wien aus ging er bald nach Köln zum Studio für elektronische Musik beim WDR. Die Begegnung mit Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig sowie seine Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Studiotechnik änderten sein Musikverständnis grundlegend. Im Unterrichten geübt, gab er seine Kenntnisse auch nach der Emigration weiter – bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, dann an der Musikakademie in Stockholm und, von 1973 bis 1989, als Professor an der Hamburger Musikhochschule.
 


Alles, was die Musik im Innersten zusammenhält, kam auf den Prüfstand

Ligeti war schon in seiner Jugend in mehrfacher Hinsicht ein Fremder: als Ungar in Rumänien, als Jude unter Christen, als Intellektueller in der Provinz. Die politischen Zeitläufte trugen ihr Übriges bei, mit Kriegsdienst, faschistischer Verfolgung, sowjetischer Vereinnahmung, Emigration nach Österreich. Daraus erwuchs seine lebenslange Abscheu vor repressiven Gesellschaftssystemen – und außerdem sein Misstrauen gegenüber der Festschreibung ästhetischer Kategorien, die ihn allzu sehr an obrigkeitliche Verordnungen erinnerten. So war es unabdingbar, dass er sich als Künstler einen eigenen Kosmos schuf.

Damit begann er schon in Budapest, als er sich auf die Suche nach »einer statischen, in sich ruhenden Musik« machte, »die keine Entwicklung und keine überlieferten rhythmischen Gestalten kennt«. Sein Ziel war, »eine neue Art von Musik sozusagen vom Nullpunkt ausgehend aufzubauen«. Alles, was die Musik im Innersten zusammenhält, kam auf den Prüfstand: »Intervallik und Rhythmik sollten völlig aufgelöst werden, nicht wegen der Destruktion an sich, sondern um Platz freizumachen für die Komposition von feingewobenen musikalischen Netzgebilden, in denen die formbildende Funktion primär auf die Webart dieser Gebilde übergeht.«

So hat Ligeti die Art, wie man Musik versteht und erlebt, neu erfunden. Seine Neugier auf unbekanntes, unentdecktes Klangterritorium loderte unablässig. Neben »Netzgebilden« wie Apparitions, Atmosphères und Lontano schrieb er auch einen ganz anderen Typus: Vokalwerke wie Aventures, die eine Kunstsprache benutzen und alle Arten von Emotionen quasi lautmalerisch wiedergeben, von großer Komik bis zu tiefer Traurigkeit, mit rasanten Wechseln von einem zum anderen. So finden sich bei Ligeti auf der einen Seite Stücke mit sich langsam wandelnden Clusterklängen, in denen die Zeit fast aufgehoben scheint, und auf der anderen Seite ereignisreiche, rhythmisch kleinteilige Werke mit schnellen Entwicklungen.

Seine Musik pendelt immer wieder zwischen diesen beiden Extremen, in den verschiedensten Abstufungen und Verbindungen. Das Dramatische steht neben dem Statischen, das Ereignis neben der Klangflächen: ein Kontrast, den eine Chorkomposition von 1973 mit dem Titel Clocks and Clouds – tickende Uhrwerke und wabernde Wolken – auf den Punkt bringt.

Ein Happening: Ligetis »Poème symphonique« für einhundert Metronome

Aufmüpfig, fast frech war er auch noch. Einmal sollte ein in aller Unschuld Poème symphonique benanntes Werk zum Abschlussempfang eines Neue-Musik-Festivals uraufgeführt werden. Keiner war darauf gefasst, einem Happening beizuwohnen: Einhundert Metronome mit Aufzugsmechanik wurden mehr oder minder gleichzeitig gestartet, tickten in unterschiedlichem Tempo, verdichteten sich zu einem undurchdringlichen Gewirr und brachten, während die Federspannung der Geräte nachließ, immer neue rhythmische Formen hervor. Man zeigte sich indigniert. Dabei war die Sache für Ligeti viel mehr als ein Jux. Die im Poème symphonique versteckten Überlegungen bilden einen Strang seines Schaffens, der ihn bis zuletzt beschäftigte: die Gleichzeitigkeit verschiedener Geschwindigkeiten, wie er sie in bestimmter westafrikanischer Musik gefunden und exemplarisch in seinen Klavieretüden aufgegriffen hat.

Ligetis Lachen ist immer auch eine Reaktion auf die Bitternis des Daseins mit seinem unvermeidlichen Ende: »Als einzigem Überlebenden einer großen jüdischen Familie bewegen mich die Angst vor dem Tod und der Wunsch des Menschen, immer zu leben oder nach dem Tode wieder aufzuerstehen, zutiefst. Sie sind der zentrale Gedanke meines Requiems, in dem ich Teile des katholischen liturgischen Textes verwende.«

Seine einzige Oper Le Grand Macabre wiederum war für ihn »eine Farce über die Furcht vor dem Tod«. Als er mit 83 Jahren starb, blieb noch manches unerfüllt. Gerade die Bühne wollte er noch einmal bezwingen; drei Jahre vor seinem Tod sinnierte er über »eine ganz andere Art von Musiktheater«, die nicht Oper, aber in einem Opernhaus zu spielen sei. Dazu sollte es nicht mehr kommen.

Ligetis Musik jedenfalls bleibt präsent in der ganzen Welt. Viele Filme nutzen die Ausdruckskraft seiner Klänge – Stanley Kubrick hat sie in 2001, The Shining und Eyes Wide Shut mit großem Effekt eingesetzt, andere Regisseure haben es ihm nachgetan. Wohl wenige Komponisten, die der Speerspitze moderner Musik im 20. Jahrhundert zugehören, haben eine derart weite Verbreitung gefunden wie Ligeti, und die Unverbrauchtheit seiner Werke ist Beweis für ihre genuine Neuheit, die mit der Zeit nicht schwindet.

Malte Krasting

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